Der harte Boden bebt (2)

397 54 31
                                    

𓂉

Alina seufzt. »Ich gehe ihm nach.« Dann ist sie ebenfalls verschwunden.

Die Welt zieht an mir vorbei. Wir sitzen wieder an unseren Plätzen im Wohnbereich des Hauses. Menschen um mich lachen, Gläser klirren aneinander und irgendwer dreht laut die Musik auf. All das nehme ich nur am Rande wahr, denn meine Gedanken kreisen um unser Gespräch in der Abstellkammer. Was, wenn es nur Medikamente sind? Er ist achtzehn. Vielleicht wurden sie ihm, unter Anordnung des Arzts, verschrieben. Ich habe überreagiert, oder? Hat er das auch?

Die Ader auf seiner Stirn hat gezuckt. Er hat die Flucht ergriffen, in einem Moment, wo er bleiben sollte. Warum bin ich nicht da oben? Ich verstecke mich hinter überzuckerten Softdrinks und aufgeweichten Salzstangen. Es ist wie damals, als ich mich nicht gewehrt habe. Reglos und bewegungsunfähig.

»Ayliz?« Ich nicke, höre aber nicht hin. Maias Mund bewegt sich rhythmisch zum Klang der Musik. Mal ist er weit geöffnet, dann schließen sich die Lippen für einen Plosivlaut zusammen. Sie erzeugen Töne, nur mein Verstand schafft es nicht, diese zu verarbeiten. Er kreist um etwas anderes. Drogen, Machtlosigkeit, Angst und Scheitern. An den Stellen, wo sie pausiert, nicke ich oder gebe »Hmmm« von mir.

Dann redet sie belanglos weiter. Meine Abwesenheit fällt nicht auf. Ob vier Minuten oder Stunden, es spielt im Moment keine Rolle. Erst als Alina zurück an unseren Tisch tritt, tickt die Uhr wieder. Ihre Augen liegen auf mir. »Er ist im Bad.« Immer noch. Sie hat ihn nicht mitgebracht, wie ich schnell feststelle.

Ich wiege ab, ihm zu folgen und mich zu entschuldigen oder ihn zu ignorieren und weiterhin an Ort und Stelle herumzuvegetieren. Ich entscheide mich für Letzteres. Er ist an der Reihe, den nächsten Schritt zu machen.

Wie ich schnell feststelle, frieren manche Leute lieber ein, statt auf andere zuzugehen. Ich tanze lieblos zu Wonderful Dream, brumme den Refrain von Last Christmas und stopfe mir Vanillekipferl in den Mund, die ein paar der Gäste frisch gebacken haben. Er bleibt fern. »Der ist bestimmt nachhause gegangen«, brüllt mir Alina ins Ohr. Schweiß tropft ihr von der Stirn, während sie die Hände in die Luft wirft und lasziv ihre Hüften kreist. Der Gedanke ist mir ebenfalls gekommen.

Vollkommen egal. Ich sollte auch nachhause gehen. Zwar hätte ich mich gefreut, Theos Cousin nochmal zu sehen, aber wenn er einfach so verschwindet, dann lasse ich mich im Zweifelsfall eben von Mila abholen. Ohne Lennja macht Karaoke, Tanzen und Weihnachtskekse backen nur halb so viel Spaß. »Ich mache mich auch auf den Weg«, murmele ich.

Sie nickt wissend, zieht mich ein letztes Mal an sich. »Es war trotzdem schön, dass du kurz da gewesen bist. Komm mal öfter vorbei.«

Ich strahle ihr entgegen, obwohl mein Körper dafür eigentlich zu müde ist. »Das mache ich. Darf ich ... vorher noch kurz deine Toilette benutzen?« Dabei drückt die Blase nicht mal. Der naive Teil in mir hofft, dass er oben auf dem Toilettendeckel sitzt und eingeschlafen ist. Es würde zu ihm passen.

Wahrscheinlich ahnt Alina schon, was ich vorhabe. »Klar. Schreibe mir, wenn du angekommen bist.« Ihre Mähne ist mittlerweile so elektrisiert, man könne annehmen, sie hat in eine Steckdose gefasst.

Ich nicke. »Bis dann.«

Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich die Gänge das letzte Mal beschritten habe. Aus der Erinnerung orientiere ich mich dennoch recht passabel. Der Treppenaufgang ist verschachtelt. Auf der ersten Etage hängen noch die Familienfotos von Kreta. Das Fahnenkraut hängt von oben durch das offene Geländer direkt in mein Sichtfeld. Hier bin ich richtig. Hinter dem aufgelegten Flusenteppich liegt inzwischen Laminat. Lediglich vor der Kommode ist ein weiterer Teppich im Boho-Style positioniert.

Was Eisberge verbergenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt