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Ich stand vor unserem Haus. Hinter mir, zur Straße hin, hörte ich die Geräusche der vorbeifahrenden Kutschen, weiter entfernt hörte ich leise Gespräche der Spazierenden und Arbeitenden und wenn ich genau hin hörte, konnte ich auch noch Vogelzwitschern vernehmen. Ich spürte das Sonnenlicht auf meinem Rücken und mein Kopf und mein Gesicht waren zu der Haustür gewendet.

Dort war ein sehr komisches Gefühl in meinem Bauch, meine Gedanken waren verschleiert und meine Beine zitterten. Ich fürchtete mich vor dem, was meine Tante tun würde, wenn ich nun klopfte. Langsam hob ich meine zitternde rechte Hand an die Tür und wagte es trotzdem, zaghaft und sehr leise. Obwohl man mein Klopfen bestimmt fast überhaupt nicht hörte, wurde doch nach einigen Sekunden die Türe vor meiner Nase aufgerissen. Überrascht schaute ich in das Gesicht meiner Cousine. In das Gesicht meiner älteren Cousine. Ich hatte gewusst, dass sie kommen würde, jedoch nicht, dass sie für ihren Besuch in unserem Haus blieb. „Maria", sagte ich nun. Ihre dunklen Haare umrahmten ihr Gesicht. Das Haar reichte gerade bis hin zu den Schultern und es war so glatt wie meine es niemals gewesen wären. Die dunklen Augen waren groß und sie schien überrascht, erstaunt und auch irgendwie besorgt zu sein. Sie war so anders als Nina, die beiden waren so verschieden. Maria neigte dazu, still zu sein und nur wenig zu sprechen während Nina sehr gern redete und auch schnell mal herum schrie. Und obwohl Maria eigentlich immer näher an meinem Alter dran gewesen war, als Nina, so habe ich doch immer mehr mit der meiner kleinen Cousine getan. Nina war immer meine kleine Schwester gewesen, sie hat sich nie nur nach einer Cousine angefühlt. Sie hatte sich mir anvertraut, und ich ihr, während Maria still bei ihrer Mutter gewesen war. Wir hatten uns nie sehr gut verstanden und ich glaubte, Maria war immer etwas sauer auf mich gewesen und war es immer noch, da sie vielleicht glaubte, ich hätte ihr die Schwester weggenommen. Meine Schuld war das aber nicht, sagte ich mir immer wieder. Das ganze lag an ihr, meinte ich. Sie hätte jederzeit zu uns beiden herüber kommen können.

Nun sah Maria mich also mit diesen weit aufgerissenen Augen an, die plötzlich zu meinen Füßen hinuntersahen. „Wo hast du die her?", fragte Maria mich jetzt, ihr Blick war prüfend und auch irgendwie wütend aber ihre Stimme war ruhig. Sie meinte die teuren Stiefel. Ohne lange zu überlegen antwortete ich: „Ich habe sie geschenkt bekommen." Es entsprach ja auch der Wahrheit. „Aha", sagte Maria, „Sie sehen ziemlich teuer aus." Ich unterbrach sie sauer: „Lässt du mich jetzt hinein oder nicht?" Ich wurde immer wütender und ungeduldiger, aber Maria machte keine Anstalten, mich ins Haus hineingehen zu lassen. Sie blieb eiskalt. „Wo warst du, Rebecca?", fragte sie mich. Meine Wut schien zu verschwinden und plötzlich kamen mir Bilder in den Kopf. Angefangen von meinem Besuch, mitten in der Nacht, in der Kneipe, bis hin zu Alicias letzten Worten. Aber als mir wieder Giacominos Gesicht vor Augen lag, wie er meine Schulter zerquetscht hatte und mich leiden hatte lassen, kam der Schmerz wieder hoch. Tränen stiegen mir in die Augen und meine Lippen fingen an zu zittern. Kurz sah ich in Marias erschrockene Augen und wischte mir mit der Hand über das Gesicht. Dann war ich mir sicher, dass ich gar nicht mehr ins Haus wollte. Ich wollte einfach nur noch weg. Es gab niemanden, mit dem ich jetzt reden wollte, keiner, der mich verstehen würde. Ich drehte mich um und wollte gerade mit dem Rennen beginnen, da hielten mich zwei Hände an der Hüfte fest. Verzweifelt wollte ich mich befreien aber meine Cousine hauchte mir nur ins Ohr: „Du bleibst hier, Rebecca." Sie zog mich durch die Tür und redete schnell weiter: „Du hast da eine Geschichte zu erzählen." Ich stöhnte, schluchzte und schrie, doch Maria ließ nicht locker, bis ich auf einem Stuhl im Wohnzimmer saß und meine Tante in der Zimmertür erschien. Sofort nachdem ich ihr in die Augen gesehen hatte, wurde mir klar, dass ich etwas Falsches getan hatte, und dass sie die Wahrheit über mein Weggehen wissen wollte. Nicht die Lüge, die ihr erzählt wurde.

Sie saß vor mir am Tisch, die Hände zusammengelegt und die Ellenbogen auf dem Tisch. Tante Elizabeths Augenbrauen waren zusammen gezogen und ihre Lippen aufeinander gepresst. „Du weißt, was morgen ist, stimmt' s, Rebecca?", ihre Stimme klang rau und trocken und ich hatte eine Vermutung, woran das liegen konnte. Natürlich wusste ich was morgen war und ich wusste auch, dass ich mir nichts sehnlicher wünschen konnte, als dass die Hochzeit ausfallen würde. Auch wenn Alicia mir versichert hatte, dass es nicht Julians Schuld gewesen war, so gab ich ihm doch die Schuld an dem, was vorhin passiert war. Ich gab ihm die Schuld und hasste ihn dafür. Der Gedanke an die Hochzeit war nun schlimmer als er es je zuvor gewesen war. Ich war mir sicher dass morgen der schlimmste Tag meines gesamten Lebens werden würde.

Ich antwortete Elizabeth mit einem Nicken, den Kopf senkte ich danach sofort wieder nach unten. Ich fror, meine Hände zitterten und ich wollte einfach nur weg. „Dann sag mir, Rebecca, wo hast du dich herumgetrieben?", sie sprang zornig von ihrem Stuhl auf und lief nun quer durch das Zimmer. „Du wusstest doch, dass ich noch Vorbereitungen zu tun hatte. Und wegen dir mussten wir die ganze Hochzeit verschieben!" Tante Elizabeth blieb stehen und stampfte wütend mit dem linken Fuß auf. Sie sah mich wütend an und rief: „Weißt du eigentlich wie viel Mühe es mich kostete, allen Gästen rechtzeitig Bescheid zu geben? Weißt du, wie viele von ihnen mich anschrien? Einige haben mir jetzt noch nicht einmal zusagen können. Diese Planänderung brachte alles durcheinander, und alles nur wegen dir!" Ich hob langsam meinen Kopf an und sah genau in die Augen meiner Tante. Ob sie die Qualen darin lesen konnte? Ich war mir sicher, dass sie es nicht konnte. Sie schien blind gegen alle meine Gefühle. Das war sie schon immer. Nie hatte sie mir gegenüber Mitgefühl gezeigt und schon als Kind hatte ich mir vorgenommen, irgendwann über ihr zu stehen. So gern ich meine Tante aber jetzt auch angeschrien hätte, ich tat es nicht. Ich war die Schwache, ich kam mir zutiefst verletzt vor und meine Stimme war mir schon vorhin einfach weggeblieben. So war das Einzige, was ich tat, ihr in die Augen zu sehen. Elizabeths Augen erinnerten mich gerade zu sehr an die von dem Grafen, die Kälte war bei beiden vorhanden. Und beide schienen mich zu hassen.

Irgendwann hatte ich meinen Blick abgewandt und meine Tante hatte ihr Schweigen beendet. Sie hatte mir alles erklärt, was am nächsten Tag passieren würde und ihre letzten Worte zu mir waren: „Wenn du es vermasselst werde nicht nur ich dir wütend sein." Ich hatte mich bemüht ihr zuzuhören, aber ihre letzten Worte wären mir fast entwischt. Fast hätte ich meinen Kopf auf die Tischplatte gelegt und wäre eingeschlafen. Als sie aus dem Zimmer verschwand, und Maria aus dem Flur verscheuchte, und ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich, dass der Abend nahte. Seltsamerweise verspürte ich keinen Hunger. Auch alle anderen Bedürfnisse schienen wegzubleiben. Ich blieb lange Zeit still sitzen und lauschte meinem Herzschlag. Meine Gedanken waren zusammenhangslos und die Erinnerungen des Tages waren zu schrecklich.

Irgendwann hob ich meinen gesenkten Kopf an, ich hatte eine Bewegung bemerkt. Schnell sah ich hin zum Fenster, auf der anderen Seite des Raumes. Ich riss zuerst erschrocken meine Augen auf, dann erkannte ich, wer da vor dem Fenster stand: mein Bruder. Ein schwaches Lächeln setzte sich mir auf die Lippen und durch die Scheibe sah ich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln.

Sofort stand ich von meinem Stuhl auf und rannte aus dem Zimmer auf die Haustüre zu. Stürmisch öffnete ich die alte, knarrende Tür und fiel meinem mich schon erwartenden Bruder um den Hals. „Louis", seufzte ich ihm ins Ohr, „Wenn du wüsstest was mir passiert ist." Bei dem Gedanken überkam mich ein starkes Gefühl von Leere. Ich fühlte mich kalt und allein. Und einfach leer. Mein Bruder entzog sich meiner Umarmung und sah mir tief in die Augen: „Ich hab da schon so was gehört." Was, dachte ich, von wem? Zuerst musste ich aber eine andere Frage loswerden: „Als ich dort auf dem Marktplatz stand und umgekippt war, warst du dort derjenige, der mich nach Hause zurück gebracht hat? Und ich habe dich dort gesehen, in der Kneipe. Warum warst du dort?" Louis schien kein bisschen überrumpelt. Er setzte sich neben mich auf die alte Holzbank vor unserem Haus und antwortete: „Natürlich war ich es, der dich zurückgetragen hat. Dass ich dich dort gesehen habe, das war ein Zufall." Zufall? Ich glaubte ihm nicht. Mein Bruder sah mich schief von der Seite an, wobei sein großer Hut nach links rutschte, und fragte: „Wo bist du gewesen, Rebecca?" Ich setzte mich schnell aufrecht hin und antwortete: „Er hat mich zu ... zu Freunden gebracht." „Zu Freunden? Waren sie auch reich?" Als Antwort zeigte ich nur auf meine Schuhe und er schien zu verstehen. Er setzte an: „Aber du redetest gerade von irgendetwas Anderem, oder nicht?" Ganz Plötzlich entschied ich mich um und wollte ihm nicht länger von dem erzählen, was mir passiert war. Ich schenkte meinem großen Bruder ein sanftes Lächeln und sprach leise: „Ich habe schon wieder vergessen, was ich gemeint habe.

RebeccaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt