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Am nächsten Morgen war ich erst spät aufgewacht, doch nachdem ich erst mal wach war, bemerkte ich, dass sich jemand im Raum befand. Ich erkannte die langen blonden Haare von Julietta, die mich ausdruckslos vom Fenster aus ansah. Dort saß sie auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet. Sie sagte nichts, und auch ich hatte ihr nichts zu sagen.

Irgendwann ging sie wieder hinaus und bald darauf kam das Mädchen, Isabelle, herein und tauschte das Tablett von gestern gegen ein Neues ein. Dann verschwand auch sie wieder, schenkte mir aber vorher noch ein schüchternes, aufmunterndes Lächeln.

Ich war für lange Zeit wieder allein und fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich gestorben wäre. Ich dachte über vieles nach und verstand nur das Wenigste. Die meisten meiner Fragen standen offen und ich wusste nicht, wer sie mir beantworten könnte, außer Julian.

Dieser kam leise in den Raum gelaufen, als die Sonne gerade wieder dabei war unterzugehen. Er sah müde aus, als er sich auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes niederließ. Wir schwiegen eine Weile, bis er mich leise fragte: „Wie geht es dir?" Ich bemerkte, dass er es vermied mich anzusehen und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich konnte wirklich nicht sagen, wie es mir ging. Vielleicht ging es mir schlecht, vielleicht ging es mir gut. Letzteres war wahrscheinlich unwahrscheinlicher, doch ich wusste es nicht. Weiteres Schweigen. Unbehagliches Schweigen.

Es klopfte an der Zimmertür und auch wenn niemand etwas sagte, steckte Isabelle ihren Kopf durch einen kleinen Türspalt und rief mit dünner, leiser Stimme an Julian gewandt: „Sie wünscht, Sie zu sehen." Dann verschwand ihr Kopf und die Tür schloss sich leise. Ich sah Julian weiterhin an, sein Kopf war gesenkt und er machte keine Anstalten, sich zu erheben. Ich erkundigte mich kaum vernehmbar: „Julietta?", woraufhin er nur mit seinem Kopf nickte. Ich beugte mich vor und fragte: „Was will sie denn?" Er sah mich weiterhin nicht an, als er sagte: „Das alles nimmt sie sehr mit. Sie musste viel durchmachen und es ist echt nicht leicht für sie. Und -", er stoppte. Nach jedem seiner Worte war ich ein wenig wütender geworden. Schließlich war ich von meiner gesamten Familie verraten worden und hatte zusehen müssen, wie man den König umgebracht hatte. Ich hatte hatte schmerzhaft erfahren müssen, dass mein Bruder, den ich erst einige Wochen kannte, mich von vorne bis hinten belogen, und mich in eine Art Verlies gesteckt hatte, in dem ich wochen- und monatelang hatte verhungern müssen. Schließlich war ich beinahe gestorben, nicht Julietta! Doch ich sagte Julian nichts von alldem. Meine Augen brannten als ich meinen Kopf zur Seite drehte, und mit zitternder Stimme „Geh." befahl. Julian schien zu zögern, dann stand er aber auf und verließ den Raum schweigend. An seiner Stelle kam Isabelle ins Zimmer, und nachdem sie die Tür kräftig hinter sich zugezogen, und die Tränen auf meinen Wangen entdeckt hatte, hatte sie sich auf einen Stuhl gesetzt und geschwiegen, bis keine Tränen mehr nach rollten.

Es war dunkel im Zimmer und draußen, ein winziges bisschen Licht schenkte eine halb heruntergebrannte Kerze auf dem kleinen Nachtisch. Ich atmete schwer und Isabelle gab keinen Ton von sich. Irgendwann fragte ich sie mit belegter Stimme: „Küssen sie sich?" Ich sah ihr tief in die Augen. Isabelle zuckte nur mit den Schultern und flüsterte leise: „Diese Frage kann ich ihnen nicht beantworten." Ich nickte einmal kurz und fragte weiter nach. „Und, teilen sie sich ein Gemach?" Sie brauchte mir dieses Mal gar nicht zu antworten, immerhin waren die beiden Königin und König, das sollte mich nicht wundern. Ich wartete noch kurz, bis ich ankündigte: „Führe mich dorthin, ich möchte es sehen." Ich würde keine Widerrede erlauben, doch Isabelle hatte schon müde mit dem Kopf genickt. Dann hatte sie sich von dem Stuhl erhoben, ihr dunkles Kleid zurecht gestrichen und mir aufgeholfen.

Nachdem ich jetzt solange nicht mehr gelaufen war, stand ich sehr wackelig auf den Beinen, und sie musste mich stützen.

Wir gingen dunkle, im Schatten liegende Gänge entlang und begegneten niemanden, was mich zuerst wunderte. Der Boden war überall mit Teppich überzogen und an vielen der Wände hingen Portraits und Gemälde.

Vor einer sorgsam verzierten Tür blieb Isabelle, und somit auch ich, stehen. Sie flüsterte leise und überflüssiger Weise: „Wir sind da." Ich horchte einen Moment vor der Tür, doch es drang kein Laut hervor. Nach langem Zögern öffnete ich die dicke Holztür. In dem Raum herrschte tief Stille. Auch hier hingen Gemälde an den Wänden und zwischen zwei großen, langen weit auseinander stehenden Fenstern stand ein breites Bett. Ich hatte genug gesehen und war nur meines Vorgehens bestärkt worden.

In dem Bett hatten Julian und Julietta gelegen. Ihre hellen, blonden Haare waren auf dem Kissen ausgebreitet gewesen, und Spuren der Tränen hatten auf ihren Wangen gefunkelt und geglitzert, während Julian sie im Arm gehalten hatte. Mondlicht hatte ihre Gesichter erhellt und hatte gezeigt, wie ähnlich sich die beiden doch waren.

Vor der Tür hatte Isabelle auf mich gewartet. Sie hatte mich fragend angesehen und ich hatte erkennen können, das ihr die ganze Situation sehr peinlich gewesen war. Ich hatte ihr nur zugeflüstert, dass ich gehen wollte. Sie hatte nicht besonders überrascht gewirkt, bis ich ihr erklärt hatte, dass sie mitkommen würde.

In meinem kleinen Zimmer zurück hatte ich sie gefragt, ob sie schreiben könne, was sie bejaht hatte. Daraufhin sollte sie für mich ein Stück Papier und etwas zum Schreiben holen, während ich mir mühsam und sorgfältig überlegt hatte, was sie gleich aufschreiben sollte.

Schließlich diktierte ich ihr, nachdem sie mit Besagtem wiedergekommen war: „Es tut mir leid, doch es ist richtig, dass ich gehe. Ich werde nicht zurückkommen und euch somit auch nicht weiterhin zur Last fallen. Und bitte lasst Joseph aus dem Gefängnis frei, er hatte seine Gründe und muss zurück zu seiner Frau und dem Kind.

Es wäre gut, wenn du mich einfach vergessen würdest, Julian."

Ich sah ins Leere und überdachte noch einmal alles, während ich noch das letzte Kratzen der Feder auf dem Papier vernehmen konnte. Dann, als es aufhörte, fragte Isabelle leise: „Dann werden Sie es ihm nicht sagen?" Zuerst war ich verwundert, und dann lächelte ich traurig und schüttelte den Kopf. Sie war so schlau. Stattdessen fragte ich „Kannst du ein Pferd reiten?" Sie nickte nur still und sah sich das Geschriebene an. Anschließend legte ich das Papier auf das Bett, welches Isabelle vorher noch schnell zurechtmachen musste, und wir verschwanden. Ohne mich noch einmal umzusehen, ritten wir davon, als mir eine einzelne, letzte Träne die Wange hinunter lief.

RebeccaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt