12.
Insgesamt fand ich den Rest der Feier sehr langweilig. Bei dem Mahl hatte ich keinen Bissen hinunter geschafft und mir war alles viel zu laut vorgekommen. Aber Eines war mir aufgefallen: Giacomino hatte ich nicht mehr entdecken können. Die Erleichterung, die mich bei dieser Erkenntnis durchströmt hatte, konnte man nur schwer beschreiben.
Doch ab da an schien alles an mir vorbei gerauscht zu sein, und kein bisschen davon war in irgendeiner Weise in meinem Gedächtnis hängen geblieben.
Ich war sehr erleichtert, als sich die Leute nacheinander irgendwann von ihren Plätzen erhoben, vielleicht manchmal noch einen freundlichen, oder manchmal auch etwas weniger freundlichen Abschiedsgruß wünschten und gingen. Ich saß währenddessen zwischen Julian und meinem Onkel, bewegte mich kein Stückchen und überlegte mir, wie mein Leben hätte anders verlaufen können.
Dann war es so weit, dass Julian neben mir aufstand und ich fragend meinen Kopf nach links, zu Alexander, drehte. Er nickte mir, wie zur Antwort, zu, schien aber von etwas Anderem abgelenkt zu sein. Seufzend erhob auch ich mich, meine Beine waren schwer und meine Füße begannen zu kribbeln. Ich versuchte nicht daran zu denken, dass zu Julians Rechten sein Vater mit seinen wachsamen, scheinbar alles erblickenden Augen stand und mich wahrscheinlich gerade scharf beobachtete. Und ich versuchte auch nicht darüber nachzudenken, dass meine Tante wahrscheinlich gerade genau dasselbe tat. Wieder seufzte ich.
Maria hatte sich schon verabschiedet, denn sie würde jetzt mit ihrem Mann zurück in ihre Stadt fahren, die beiden lebten nun nämlich nah der Nordgrenze dieses Landes, und unsere Stadt lag ein ganzes Stück weiter im Süden. Die beiden hatten eine lange Kutschfahrt vor sich, worum ich sie nicht beneidete.
Und noch einmal seufzte ich, diesmal länger und tiefer. Julian hielt mir die rechte Hand hin, und nochmals seufzend nahm ich sie; dann führte er mich hinaus wo schon die Kutsche wartete, die uns auf das große Anwesen der Bennetts fahren würde.
Draußen war schon die Sonne untergegangen, doch warm war es noch immer. Die meisten Gäste waren entweder schon weggefahren, oder befanden sich gerade auf dem Weg zu ihren Kutschen.
Langsam gingen wir auf eine große Schwarze Kutsche vor uns, mit riesigen Rädern, zu, bei deren Anblick ich mich unwillkürlich fragte, ob schon mal jemand darunter zerquetscht worden war. Mir wurde schlecht.
An der Kutsche angekommen ließ ich schnell Julians Hand los und er half mir hinein in das große Gefährt. Wie bei der Kutsche, mit der ich schon das letzte Mal zu den Bennetts gefahren war, war auch diese hier von innen sehr groß. Die Bänke waren mit Kissen gepolstert und die Fenster mit dicken, seidenen Vorhängen verhängt. Ich setzte mich auf die Bank die mir näher war, und als Julian kurz nach mir einstieg, setzte er sich mir gegenüber. In Gedanken versunken lehnte ich meinen Kopf gegen die Innenwand und bald darauf setzte sich die Kutsche in Bewegung. Wir beide sprachen nicht und hingen nur unseren eigenen Gedanken hinterher. Ich versuchte mich damit abzufinden, dass mein Name nun auch Bennett lautete und überlegte, über was sich Julian den Kopf zerbrechen könnte.
Nach einiger Zeit unterbrach Julian das Schweigen und fragte mich vollkommen unerwartet: „Wo sind eigentlich deine Eltern?" Ich verstand zuerst nicht ganz, dann fing ich an zu überlegen. „Weg.", sagte ich, „Sie sind weg." Julians Augenbrauen zuckten kurz nach oben und er fragte: „Was heißt 'weg' in diesem Falle?" Na, dass sie weg sind, dachte ich genervt. „Meine Mutter ist davongezogen und hat mich bei meiner Tante gelassen, nachdem mein Vater verschwunden war." Meine Antwort kam mir in diesem Moment genau genug vor. Ich fühlte mich erschöpft und ausgelaugt, meine Gedanken verwirrten mich schon seit den letzten paar Tagen genug und ich wollte mich nur noch irgendwo hinlegen und einschlafen. Ich rieb mir über die Augen und sah einen Moment später aus dem Fenster, indem ich den Vorhang mit der einen Hand zur Seite hielt. Ich fragte, mich wieder an Julian gewandt: „Ist es noch weit?" Er schüttelte nur gedankenverloren den Kopf. Ansehen tat er mich nicht. Ob er meine Frage überhaupt gehört hatte? Und ganz plötzlich ruhte sein Blick wieder auf mir und er sagte: „Weißt du ...", er stoppte. „Was denn, was weiß ich?" Ich starrte ihn immer noch an. „Ist schon gut." Was? Das gab' s ja wohl nicht. „Doch, ich will es aber hören. Jetzt sag schon!" Er schüttelte langsam den Kopf. „Julian!" Als er wieder nur den Kopf schüttelte, ließ ich es einfach bleiben. Wie mich das aufregte! Stattdessen fragte ich noch einmal: „Ist es noch sehr weit, Julian?" Ich fragte mich unwillkürlich, ob er mich schon wieder nicht verstanden hatte. Ich strich mir genervt einige aus meiner heute morgen so ordentlich geflochtenen Frisur gefallenen Haarsträhnen hinter die Ohren. Er antwortete mir diesmal richtig: „Nein. Wir sind bald da." Irgendwie erstaunte mich diese Antwort fast schon. Mal wieder konnte ich aus seinem Gesicht nichts herauslesen. Seinen linken Ellenbogen stützte er an dem Fensterglas ab, seine andere Hand ruhte unruhig auf seinem Oberschenkel. Die einzigen Geräusche waren das Klappern der Pferde auf den Straßen und wie wir in unterschiedlichen Abständen Luft holten. Irgendwo in mir spürte ich einen Drang nach einem Abenteuer, so wie ich es mir früher manchmal vorgestellt hatte, wenn ich abends nicht einschlafen konnte. Doch ich spürte zusätzlich immer noch etwas, das auf mir wie ein schwerer Stein lastete. Ich konnte das gestrige Erlebnis einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden lassen, so sehr ich es mir wünschte. Ich sagte mit einem Mal, aber mit leiser Stimme: „Ich habe ihn heute nicht mehr gesehen." Schlagartig hörte ich, wie Julian den Atem anhielt und diesmal war ich mir sicher, dass er mich gehört hatte. Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen, aus Angst. Dabei wusste ich nicht, wovor ich mich fürchtete. Ich hasste ihn, sagte ich mir wieder. Nein, das war nicht ganz richtig. Ich hasste Giacomino. Bei Julian war es anders: Ich war viel mehr enttäuscht und verletzt, aber hassen konnte ich ihn trotzdem nicht.

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Rebecca
HistoryczneRebecca Dumont ist ein junges Mädchen und lebt in einer Zeit, in der viele Dinge noch anders sind. Sie lebt bei ihrer Tante und ihrem Onkel, seit ihre Mutter sie als kleines Kind im Stich gelassen hat, und nun soll sie heiraten - dabei liebt sie den...