Meine Großeltern haben sich vor siebenundvierzig Jahren kennengelernt. Oma hat mir früher immer die Geschichte erzählt, wenn ich sie besucht habe und nicht schlafen konnte.
Rita wuchs dort auf, wo auch ich aufwuchs. Gleicher Ort, gleiches Haus, vielleicht auch das gleiche Zimmer.
Als sie vierzehn ist muss sie die Volksschule verlassen, weil das Gymnasium zu weit weg und sowieso nur für Jungen ist. Sie darf jedoch eine Ausbildung zur Krankenschwester machen und nach den letzten Prüfungen hat sie die Koffer gepackt.
Sie ist mit einer Freundin und knappen siebzehn Jahren in ein klapprigen Flugzeug ohne Rauchverbot gestiegen und nach Nigeria geflogen. Ihre Familie hat die erst von dort angerufen und gesagt wohin sie verschwunden ist - im Nachhinein war das keine gute Idee nach dem Bürgerkrieg dort, erzählte sie mir einmal.
Die Beiden arbeiteten in unterschiedlichen Schulen und Kinderhäusern. Rita als Krankenschwester und ihre Freundin Hedwig als Köchin.
In einem kleinen Hafenort bei Lagos trifft sie zum ersten Mal auf Adisa, oder wie er sich zuerst vorstellte: Adam. Sie hatte seinen Vater, einen Lehrer an der Schule an welcher sie arbeitete, nach einem Herzanfall zum Arzt und nach Hause begleitet.
Ihr erster Eindruck war wahrscheinlich nicht besonders beeindruckt, denn als er sie zum Ausgehen einladen wollte, lehnte sie entschieden ab.
In den folgenden Wochen sah sie ihn oft, er arbeitete in seinen Semesterferien an selbiger Schule und irgendwann aßen sie in den Mittagspausen gemeinsam.
Am liebsten mochte Rita Gemüse mit Reis und Kochbananen und seit fast fünfzig Jahren macht Adisa ihr dieses Essen, wenn sie einen schlechten Tag hat.
Nach seinen Semesterferien ist Adisa wieder zurück an seine Universität in England geflogen. Mit mir hat er erst einmal über die nicht so schönen Erlebnisse gesprochen, man wollte ihm keine Wohnung oder ein Zimmer vermieten und so lebte er zu Beginn seines Studiums für einige Wochen auf der Straße bis ihm ein Professor und Freunde geholfen haben.
Rita reiste in dem folgenden Jahr bis nach Ghana, dann jedoch starb ihr Bruder bei einem Autounfall und beide mussten wieder zurück nach Deutschland.
Wochen nach der Beerdigung hat sie erst ihre Reisetasche ausgeräumt und dabei einen zerknitterten Zettel gefunden mit einer Adresse in England.
Ein Brief war schnell verfasst und abgesendet und erhielt eine Antwort von Adisa. Nach einigem Briefwechsel setzte sich Rita in den Zug, die Fähre und weitere Züge, um ihn zu besuchen.
Sie blieb dort und Adisa und Rita heirateten. Rita bekam meine Mutter und vier weitere Kinder. Sie arbeitete erst in einem Krankenhaus und später in einer Jugendwohngruppe. Adisa studierte bis zum Professor und half in einer Bibliothek. Er kochte und kümmerte sich um die Kinder, wenn Rita arbeitete.
Als zwei der Kinder ausgezogen waren, zogen sie nach Irland, wo Adisa ein Lehrstuhl angeboten wurde. Sie kauften ein kleines Haus mit Garten und nachmittags passen sie auf ihre Enkel auf.So hat meine Oma die Geschichte erzählt und genauso friedlich war sie in meiner Erinnerung.
Sie hat erst vor kurzem von den anderen Sachen geredet.
Das sie nicht weiter zur Schule durfte und ihr Vater nur auf Drängen der Mutter die Ausbildung erlaubte, weil eine Frau nicht schlau sein muss um Kinder zu gebären.
Das die Arbeit unglaublich hart war und sie mehrere Male von Mitarbeitern und Vorgesetzten bedrängt wurden.
Das Adisas Vater Rita sowohl als Haushaltshilfe als auch als Adisas Ehefrau vehement ablehnte. Manchmal auch mit Gewalt.
Das ihr Bruder erst Jahre später verstarb und sie zurück musste, weil Rita und Hedwig zu nicht einvernehmlichen Handlungen genötigt wurden und sich nicht mehr sicher gefühlt haben auf ihrer Reise.
Das sie Adisa nur schrieb, weil sie wissen wollte von wem denn jetzt die Adresse war.
Das die Beiden heirateten, weil Rita schwanger war.
Das weder ihre noch seine Familie trotz Einladung zur Hochzeit erschienen. Nur Hedwig, Monife - Adisas Schwester - und Fred - ein Studienfreund von Adisa.
Das sie zu siebt in einer winzigen Wohnung lebten, da nur Rita ein vernünftiges Einkommen hatte.
Das nur Ritas Mutter einmal zu Besuch kam und Adisa seine Eltern nicht ein einziges Mal wieder sah.
Das der Hof in Deutschland an meine Mutter vererbt wurde, weil Ritas Vater auch nach dem Tod nicht von Rita und Adisa wissen wollte.Rita und Adisa, Hedwig, Monife und Fred sind nicht ihre echten Namen.
Die Geschichte setzt sich aus meiner Erinnerung und der meiner Großmutter zusammen.
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100 Days of Otherness
Non-Fiction"Woher kommst du?" "Du bist doch von dieser Familie da, oder?" "Wenn ihr in Deutschland seid, müsst ihr auch Deutsch sprechen!" "Könnt ihr keine Kondome benutzen, oder was?" Phrasen und Fragen wie diese bestimmen meinen Alltag. Bin ich nicht normal...