Es ist Montag, elf Uhr, die Frühlingssonne wärmt die Gesichter der Passanten und ein laues Lüftchen sorgt dafür, dass sich die Haut nicht überhitzt. Vereinzelte, weiße Wölkchen machen den sonst so strahlend blauen Himmel lebendig. In der Luft liegt der Geruch von Kaffee und frischem Gebäck.
Oliver sitzt wie immer im Außenbereich des Cafés, das sich nicht nur an den großen Marktplatz mitten in der Stadt schmiegt, sondern sich auch weit darüber ausbreitet. Sein Tisch steht den Leuten, die ihn überqueren, regelrecht im Weg. So eilen sie an ihm vorbei, unterwegs zur Arbeit, zum Einkaufen oder wohin auch immer.
Er liebt es, mittendrin zu sitzen und es stört ihn nicht im Geringsten, dass sich ein Teil des Geschehens an den anderen Tischen in seinem Rücken abspielt. Seine Selbstsicherheit kommt mit seinem Körperbau. Er ist ein Riese mit muskelbepackten Oberarmen und ebensolchen Beinen, einem Stiernacken und riesigen Händen und Füßen. Sein etwas dunklerer Hautton, das kantige Gesicht und die pechschwarzen Haare verstärken den ersten Eindruck, sich besser nicht mit ihm anzulegen. Nichtsdestotrotz ist er ein gut aussehender Mann, denn die Proportionen stimmen. Seine halblange, leicht wellige Frisur sorgt dafür, dass ihm die Haare fast spielerisch in den Nacken und über die Stirn fallen und weichen, zusammen mit seinen runden und rosigen Wangen und der etwas zu breiten Nase, seine harten Gesichtszüge etwas auf.Er weiß, wie ernst er aufgrund seiner dunklen und an den Winkeln leicht nach unten geneigten Augen wirkt. Deshalb schenkt er der Frau, die ihn vorhin und von weitem noch fast mit ihren Augen ausgezogen hat, ein warmes Lächeln, als sie - jetzt deutlich nervöser - an ihm vorbei huscht. Wenn die Mundwinkel seiner vollen, breiten Lippen, umrandet von einem sorgsam gepflegten Dreitagebart, nach oben wandern und sich kleine Lachfältchen an seinen Augenwinkeln bilden, sorgt das in der Regel für ein erleichtertes Zurücklächeln der Passanten.
Oliver liebt es, hier, im Park oder in einigen Cafés und Restaurants der Umgebung im Weg zu sitzen und die Leute zu beobachten. Herauszufinden, welches Gefühl sie gerade beherrscht und antreibt oder auch blockiert, fasziniert ihn. Sind es gute Gefühle wie Glück, Liebe oder Mut? Oder treibt sie Hass oder Stress? Sind sie traurig, vielleicht ängstlich, einfach nur entspannt oder sogar verspielt?
Noch mehr Freude bereitet es ihm, wenn er mit ihnen interagieren kann. Bei den Mutigen, Verspielten und Glücklichen ist es leicht, das Gefühl mit einem Lächeln, Lachen oder Zwinkern zu verstärken. Schöner ist es jedoch, wenn man ein negatives Gefühl mit einem aufmunternden oder besorgten Blick oder einer beruhigenden Geste etwas mildern kann und dafür ein dankbares Lächeln zurückerhält. In einer Stadt voller Menschen ist es schon erstaunlich, dass den meisten Leuten vor allem eins fehlt - gesehen zu werden. Und das ist der zweite Grund, warum er hier jeden Morgen sitzt. Er beobachtet nicht nur, er zeigt seinen Mitmenschen auch, dass sie gesehen werden und hin und wieder lädt er sie mit einer leichten Handbewegung oder einer Geste mit dem Kopf ein, sich zu ihm zu setzen. Alles ohne Worte und selten mit Erfolg. Doch allein das Angebot sorgt auf vielen Gesichtern für Freude.Oliver kennt die Geschichten hinter den Gesichtern nicht und daher urteilt er auch nicht über sie. Er fragt sich nicht, was sie antreibt und erfindet keine Geschichten. Er erspürt, er sieht und er zeigt anderen, dass sie gesehen werden. Entspannt in seinem Stuhl zurückgelehnt, eine große Tasse Kaffee in der einen und sein Handy in der anderen Hand, strahlt er alles aus, was sich die meisten Menschen wünschen. Ruhe, Entspannung, Freude, Zufriedenheit. Auch wenn sich so gut wie nie jemand zu ihm setzt, so entlockt seine Aufmerksamkeit den vorbei eilenden Menschen doch sehr oft eine freundliche Reaktion. Es ist erstaunlich, wie einfach es ist, angelächelt zu werden - man muss nur selbst lächeln. Zu sehen, wie jemand kurz stehen bleibt und tief durchatmet um sich zu beruhigen oder die Schultern strafft und aufrechter weiter geht, nach einem Blickaustausch mit Oliver, verbucht dieser als Erfolg.
Der Postbote schiebt sein Rad an ihm vorbei und ruft ihm ein „Moin!" zu. Er erwidert es mit einem Winken und einem breiten Grinsen. Er ist einer von vielen, mit dem sich im Laufe der Zeit eine Art Grußfreundschaft entwickelt hat. Man sieht sich regelmäßig, nickt sich zu oder sagt Hallo und fühlt sich nicht mehr so allein. Ein gutes Gefühl für beide Seiten, wie Oliver aus kurzen Gesprächen weiß. Kein Grund es zu vertiefen, aber auch kein Grund es sein zu lassen. Es ist schön, wie es ist, ganz ohne Namen und Adressen oder ausgetauschte Telefonnummern.
Nur eine Sache kann er nicht einfach laufen lassen, ohne sich einzumischen. Wenn Gewalt ins Spiel kommt. Und da ist es ganz egal, ob es eine Mutter ist, die ihr Kind anschreit, ein Mann, der an seiner Frau herumzerrt oder ein paar Jugendliche, die einem anderen das Leben schwermachen. Sobald jemand die Hand gegen einen anderen erhebt, ist er da. „Gewalt ist niemals eine Lösung!" Die ruhige Art, mit der er das sagt, sorgt zunächst meist für Überraschung und immer wieder ist das Opfer nicht unschuldig an der Verzweiflung oder dem Streit, der eskaliert. Doch ein „das geht sie nichts an", oder „wie können sie es wagen sich einzumischen" bleibt den Schlägern oft im Halse stecken, sobald sie gesehen haben, wer sich da einbringt. Nein, mit Oliver will sich wirklich niemand anlegen.
Und dann gibt es noch diese Momente, in denen das Opfer der Gewalt tatsächlich mehr Angst vor seinem Peiniger zeigt als vor ihm. Blicke, die er verabscheut, denn sie zeigen nicht selten auch Hoffnungslosigkeit. „Wenn das öfter passiert und du Hilfe willst, dann komm und finde mich." Oliver ist nicht schwer zu finden, denn er ist ein Mann der Gewohnheiten. Selbst wenn Termine ab und zu Lücken in seinen Tagesablauf schlagen, so ist er doch spätestens am nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder hier oder an den anderen Plätzen, die er an den immer gleichen Tagen, zur immer gleichen Stunde aufsucht. Mehr als seine Hilfe anbieten und dann warten kann er nicht tun. Man kann niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will. So ist das nun einmal. Das hat er schon vor langer Zeit gelernt.
Von Bullys und Schlägertypen gesehen zu werden ist daher sein drittes Vergnügen bei all dem. Der Moment, wenn sich einer von ihnen zu ihm umdreht, bereit seinen Hass auf ihn zu richten, und zu einem plötzlichen Halt kommt, wenn sein Blick die Muskelberge hinauf wandert bis er schluckend in Olivers Augen sieht, ist immer wieder berauschend. Plötzlich sind sie dann ganz kleinlaut und bereit zum Rückzug. Oliver bildet sich ein, dass allein seine Anwesenheit dafür sorgt, dass es an all seinen festen Plätzen ein bisschen friedlicher zugeht.
Die junge Frau, die es geschafft hat heil an ihm vorbei zu kommen, wirft noch einen Blick zurück über ihre Schulter, sichtlich erleichtert, dass er noch immer vollkommen entspannt auf seinem Platz sitzt. Oliver fängt den Blick auf und zwinkert ihr zu. Erwischt schüttelt sie lachend den Kopf und hebt die Hand zu einem Abschiedsgruß, bevor sie in der Menge verschwindet und Oliver seine Blicke erneut wandern lässt. Heute ist wirklich ein schöner Tag.
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Missing Piece ✅
RomanceOliver ist ein guter Beobachter doch eines Morgens läuft ihm dieses eine Pärchen über den Weg, das er nicht einordnen kann. Irgendetwas stimmt nicht. Etwas fehlt. Aber was? Mit dem drängenden Gefühl, dass die beiden seine Hilfe brauchen könnten, bes...