04 Bonding

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„Hallo, warte mal kurz", erschallt ein Ruf, der vom starken Wind, der an diesem Tage herrscht, an Olivers Ohr getragen wird. Dunkle Wolken sammeln sich am Himmel und sicher wird es heute noch regnen. Oliver bleibt stehen und dreht sich auf dem Weg durch den Park, den er gerade nimmt, um. Neugierig schaut er dem Rufenden entgegen, der sich schnellen Schrittes nähert, mit den Händen am Kragen im Versuch, sich vor den kleinen Böen zu schützen, die einen Weg unter die Kleidung suchen, um einen eiskalt zu erwischen.
„Hast du mal einen Moment?" Blondie ist in seiner Annäherung eindeutig direkter als sein Freund. Schon seit einer Weile sind aus den einfachen Grüßen aus der Ferne ein paar Momente geworden. Momente, in denen man einige Worte austauscht, sich die Hand gibt und einander abschätzt. Dass Du war dabei keine Frage und kam von beiden Seiten ganz natürlich. Ob er weiß, dass sich sein Freund gestern zu ihm gesetzt hat?

„Ich hätte da mal eine persönliche Frage, wenn das okay ist?"
Die Sorgen stehen ihm ins Gesicht geschrieben und Oliver unterdrückt ein Schmunzeln, auch wenn er längst weiß, dass er darin nicht besonders gut ist, weil sich dann seine Lippen immer so auffällig kräuseln. Der andere nimmt es aber mit Humor und grinst ebenfalls verlegen.
„Ich heiße übrigens Tristan", reicht er ihm seine Hand zum Gruß und Oliver ergreift sie und stellt sich ebenfalls vor. Er freut sich, denn das hier ist ein weiterer Schritt zu einer Vertrauensbasis, die er stets mit den Leuten auf der Straße sucht. Niemals fragt er nach einem Namen, niemals bietet er seinen einfach ungefragt an. Stets überlässt er es dem anderen, diesen ersten Schritt zu tun und er hat gute Erfahrungen damit gemacht. Der feste Händedruck gefällt ihm und dauert vielleicht eine Sekunde länger als normal.
„Wie kann ich dir helfen?"

„Mir ist aufgefallen, dass du ziemlich viel Zeit im Café und im Park verbringst und deine Art die Leute zu beobachten macht mich etwas nervös. Besonders wenn es mein Boy ist, auf den dein Blick fällt."
Das ist nur zu verständlich und auch der Grund, warum Oliver grinsen musste. Seine Art, herumzusitzen und Leute zu beobachten, kann durchaus gruselig wirken und einem - bedenkt man sein Aussehen - sogar Angst machen. Schon mehr als einmal wurde deshalb die Polizei auf ihn aufmerksam gemacht. Oliver freut sich, dass Tristan ihn selbst anspricht und nickt dessen Erklärung deshalb einfach ab, wartet aber ansonsten geduldig auf die Frage, die nach kurzem Zögern auch endlich kommt.

„Was machst du eigentlich beruflich?"
Tristan stellt sie so vorwurfsvoll, dass Oliver nicht anders kann und laut auflacht. Mit einem Daumen zeigt er über seine Schulter auf den noch trockenen Weg und fordert seinen Gesprächspartner auf, ihn ein Stück zu begleiten. Unterwegs zu der kleinen Gartenmauer, die ein verwildertes Grundstück vom Park abgrenzt und der aktuelle Treffpunkt einer Gruppe obdachloser Jugendlicher ist, erzählt er ihm, was er tut.
„Mein Frühstück im Café ist meine Freizeit und die Interaktion mit den Menschen mein Hobby. Es ist aber auch sowas wie ein Trainingscamp für meinen Beruf und eine Art offenes Büro, wo man mich ansprechen kann, wenn man endlich bereit dazu ist."
Mit diesen Worten endet seine Erklärung und auch der Weg, den er zu gehen hat. Die Mauer mit den Jugendlichen bereits in Sicht bleibt er stehen und dreht sich noch einmal zu Tristan um.
„Mein Blick ist das erste Mal auf euch gefallen, weil ich mir ebenfalls Sorgen um deinen Freund gemacht habe. Doch eigentlich glaube ich nicht, dass er Missbrauch ausgesetzt ist."
Das überrascht den Blonden nun doch. Aber statt eiligst seine Unschuld zu beteuern, strafft er seine Schultern und lächelt fast stolz.
„Er ist bei mir in guten Händen, das kann ich dir versichern."
Oliver nickt nur noch, denn das deckt sich mit dem Ergebnis, zu dem er selbst gekommen ist.

Tristan hat Olivers Jobbeschreibung interessiert zugehört und nur wenige Fragen gestellt. Sein Interesse an ihm scheint mit diesem neuen Wissen jedoch auf einen Schlag gestiegen zu sein, denn er greift jetzt in seine Brusttasche und zieht eine Visitenkarte heraus.
„Ich würde gerne mehr über deine Arbeit erfahren, denn vielleicht ergibt sich da eine Möglichkeit der Zusammenarbeit", erklärt er und Oliver schaut hinab auf die Karte.
„Ich leite ein großes und sehr erfolgreiches Personaldienstleistungsunternehmen. Ich will nicht angeben, aber ich habe noch jedem einen Job vermittelt und mit einem Arbeitgeber zusammengebracht, bei dem am Ende alle Beteiligten zufrieden waren", erklärt er stolz.

Doch dann verzieht er das Gesicht und gesteht: „Außer meinen Boy." Olivers Interesse ist geweckt. Nicht nur, weil er tatsächlich immer wieder Jobs für seine Schützlinge benötigt, sondern auch, weil er mehr über das Paar erfahren will, das ihn einfach nicht loslässt. Wie es scheint, liegt der Erfolg von Tristans Firma auch darin, dass seine Mitarbeiter glücklich, weil gut bezahlt sind und die Arbeitgeber bereit sind, teuer für sein Personal zu zahlen, weil sie mehr als zufrieden mit den Vermittlungen sind. Das wirft ein ganz neues Licht auf den so arrogant wirkenden Blonden und zieht Oliver nur noch mehr an. Er greift jetzt in seine eigene Hemdtasche und streckt Tristan ebenfalls eine Visitenkarte entgegen. Dass beide ihre Karten auf dieselbe Weise griffbereit halten, lässt sie breit grinsen, doch natürlich ergibt es Sinn, wenn beide dazu neigen, Kunden von der Straße aufzusammeln.
„Wir können uns gerne mal zur Mittagspause im La Strada treffen, da bin ich jeden Mittwoch."
Ja, Oliver ist ein Mann der Gewohnheiten und er findet nichts Schlimmes daran, dass er einen Mittag in der Woche in seiner Lieblingspizzeria verbringt und sich dort das Gericht der Woche munden lässt. Und der Mittwoch ist für ihn einfach der beste Tag dort.
„Abgemacht", die beiden schütteln Hände und wieder hält die Berührung etwas länger an als nötig. Tristan dreht sich um und geht den Weg zurück, den sie gekommen sind, und Olivers Blicke folgen der Gestalt, an der der Wind jetzt schon etwas stärker zerrt. Wenn er nur ergründen könnte, was an ihm und seinem Freund so anziehend auf ihn wirkt. Aber vielleicht hilft es, wenn er sich ab jetzt öfter mit ihnen unterhält. Oliver kennt viele Leute, aber echte Freunde hat er so gut wie keine. Vielleicht sollte er so eine Gelegenheit einfach nutzen, wenn sie sich ihm bietet.

„Hey, Olli! Willst du zu uns?" Die Jugendlichen johlen hinter ihm und bringen ihn dazu, sich umzudrehen und zu ihnen zu gehen. Sie sind schon fast auf dem Sprung zu einem anderen Treffpunkt, vermutlich unter der Brücke südlich des Parkes, wo sie etwas Schutz vor dem Regen finden werden, der jetzt deutlich in der Luft liegt. Sie haben außerdem gelernt, dass es nicht gut ist, zu lange an einem Platz zu bleiben. Irgendwer ruft früher oder später die Polizei, die prüfen dann Personalien, stellen bei dem einen oder anderen die Minderjährigkeit fest und fangen an, Eltern anzurufen oder ähnlichen Schwachsinn zu unternehmen. Kaum einem der Jugendlichen hilft das. Es kostet sie lediglich Zeit, bis sie das nächste Mal durchbrennen können. Oliver schließt sich ihnen einfach an und unterhält sich auf dem Weg mit ihnen, steckt einem neuen Jungen seine Karte zu und erinnert sie daran, dass sie Möglichkeiten haben. Sie müssen sie nur ergreifen.

Missing Piece ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt