Schon am nächsten Morgen taucht Tristans Freund wieder im Café auf. Die Sonne ist wieder obenauf, hat die restlichen Wolken, die sich nicht in den letzten Stunden entleert haben, verbrannt und ist nun dabei, Pflaster und andere Flächen zu trocknen und die trüben Gedanken zu vertreiben.
„Hallo Oliver!", begrüßt er ihn frech, zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzt sich neben ihm. Dann dreht er sich zu ihm um und streckt ihm seine Hand entgegen.
„Ich bin übrigens Toby." Schmunzelnd nimmt seine Riesenpranke die zierliche Hand gefangen und drückt sie vorsichtig. Der Mann und seine Hand mögen wirklich klein neben Oliver wirken, doch der Händedruck ist stark und fest. Es ist gut zu wissen, dass das Paar miteinander über ihre Treffen mit Oliver spricht, denn der Sozialarbeiter gewinnt immer mehr den Eindruck, dass die beiden ein wirklich gutes Paar sind und er hat sicher nicht vor, ein Keil zu sein, der sich zwischen sie schiebt.Wie beim letzten Mal sitzen sie in einträchtigem Schweigen nebeneinander, bis ihre Bestellungen auf dem Tisch stehen und die ersten Schlucke getrunken wurden. Diesmal entkommt dem jungen Mann ein tiefer Seufzer, als er sich mit seinem Glas in der Hand im Stuhl zurückgelehnt und den Geschmack wie die Gesellschaft einfach zu genießen scheint. Mit gekräuselten Lippen zwinkert Oliver ihm zu.
„Geht es dir gut?"
Toby nickt mehrfach überdeutlich und trinkt noch einen Schluck, bevor er das Glas auf dem Tisch abstellt. Die Blicke der beiden Männer treffen sich nicht, wandern stattdessen über die Menschenmenge, doch das heißt nicht, dass ihre Gedanken nicht beim jeweils anderen sind. Zumindest geht es Oliver so, und Tobys nächste Worte beweisen, dass es ihm nicht anders ergeht.
„Ich weiß nicht wieso, aber in deiner Nähe fühle ich mich ruhiger. Es ist, als ob jemand eine Tür zumacht und jeglichen, unnützen Lärm ausschließt."
Oliver nimmt das als Kompliment. Seine ruhige Art sorgt nicht selten dafür, dass andere sich erst recht aufregen und über seine Passivität und den fehlenden Elan schimpfen. Dass jemand diese Qualitäten als eben das anerkennen und genießen kann, freut den Riesen. Zumal er sie selbst eher für eine besondere Fähigkeit hält, die auch ihr Gutes hat. Sie ist der Grund, warum er in seiner Arbeit vor allem mit Jugendlichen und Kindern so erfolgreich ist. Aber auch mal privat dafür gelobt zu werden, tut ihm gut.„Magst du mir erklären, warum dein Freund und so erfolgreiche Personaldienstleister ausgerechnet bei dir versagt?" Oliver schlägt einen lockeren, leicht neckenden Ton an und - wie erhofft - bringt das Toby zum Lachen.
„Hat er dir sein Leid geklagt?" Oliver nickt und Toby zieht seine Schultern hoch und lässt sie wieder fallen.
„Ich kann mich nicht besonders gut konzentrieren. Wir haben es ein paar Mal versucht, mit Arbeiten, die mich wirklich interessiert haben. Am Anfang bin ich immer voll bei der Sache, aber dann werde ich nervös, schaffe es nicht, mich lange zu konzentrieren und sobald ich die ersten Fehler mache, ist es so gut wie vorbei. Jeder aufgedeckte Fehler macht mich noch nervöser und dann vergesse ich was und mache noch mehr Fehler." Er schüttelt den Kopf und lässt ihn dann ebenso hängen wie seine Schultern.
„Ich habe in keinem der Jobs die Probezeit überlebt. Jetzt kümmere ich mich um Tristan und den Haushalt. Er schafft es, mich zu erden und mir meine Aufgaben so zu stellen, dass ich mich darauf fokussieren kann. Und wenn ich einen Fehler mache, dann ist das nicht schlimm. Im Gegenteil."
Bei seinen letzten Worten glitzert das Grün in seinen Augen hell auf, doch seine Körperhaltung gibt die Freude nicht wieder. Er scheint sich zu schämen. Ein Gefühl, dass Oliver nicht besonders mag, besonders wenn es unangebracht ist und nur auf dämlichen Gesellschaftsregeln beruht.„Es ist nichts verkehrt daran, ein Hausmann zu sein!", erklärt Oliver rigoros und sieht Toby dabei offen in die Augen, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, wie ernst es ihm damit ist.
„Vielleicht brauchen die Männer in unserer Gesellschaft mal eine E-Frau-zipationsbewegung. Wir sind im 21. Jahrhundert. Heute steht jedem alles offen - sollte man meinen - oder nicht?"
Toby kann kaum glauben, was er da hört und muss husten, weil er sich bei dem albernen Vorschlag einer neuen Männerbewegung an seinem Getränk verschluckt. Doch schließlich lehnt er sich wieder in seinem Stuhl zurück und summt zustimmend.
„Wenn man es so sieht, hast du natürlich recht."
„Genauso sehe ich das", brummt Oliver und entlockt Toby damit ein weiteres Lachen.
„Aber was noch viel wichtiger ist? Es ist ganz egal, wie ich oder andere das sehen. Wichtig ist, wie du es siehst und wie es dein Freund sieht. Wenn ihr zufrieden seid mit eurem Arrangement, dann ist das alles was zählt. Pfeiff auf gesellschaftliche Normen und die Meinung von anderen, die es im Zweifel nichts angeht, ob du als Hausmann oder als Büroangestellter, Arbeiter oder Geschäftsführer hart arbeitest. Es ist Euer Leben, nicht ihres."
Auf Tobys Wangen legt sich eine leichte Röte und er murmelt ein: „Danke."Dann sieht er ihn verlegen aus seinen Augenwinkeln an.
„Aber deine Meinung ist mir wichtig."
„Wieso?" Oliver ist sichtlich überrascht und wirklich neugierig. Je mehr er über die beiden erfährt, umso weniger versteht er, warum er sich zu ihnen hingezogen fühlt. Sie sind kein Fall für seinen Job, trotzdem hat er das Gefühl, den beiden helfen zu können, aber wobei? Da sich beide in einer festen Beziehung befinden, noch dazu in einer - wie er vermutet - der er nichts abgewinnen kann, fragt er sich wirklich, was mit ihm los ist. Vielleicht macht sich das Fehlen von Freundschaften langsam bemerkbar? Und nochmal - das passt einfach nicht zu dem Eindruck, dass es etwas gibt, das er für sie tun könnte - nur was?„Weil du mir gut tust."
Die Erklärung ist so schlicht wie unglaublich. Sie kennen sich nicht und haben bisher kaum ein Wort gewechselt.
„Was sagt denn dein Freund dazu?", ist alles, was Oliver dazu einfällt. Selten hat er sich mit einer Situation so überfordert gefühlt. Aber Toby redet nicht über Tristan, schon gar nicht schlecht.
„Das musst du ihn schon selber fragen!", meint er nur und wendet sich dann wieder von Oliver ab und der Menschenmenge zu. Das Thema scheint damit beendet zu sein. Auch wenn er gerne mehr darüber erfahren würde, gefällt es Oliver sehr, dass die beiden nicht hinter dem Rücken des anderen übereinander reden. Ebenso wie sie scheinbar nichts voreinander verheimlichen. Das alles hilft Oliver bei seiner nächsten Entscheidung.„Nun, wenn wir Freunde werden wollen, dann sollten wir uns wohl besser kennen lernen."
Letztlich ist es egal, warum Toby und Tristan ihn magisch anziehen. Da sie sein Interesse erwidern und dadurch scheinbar keine Probleme in ihrer Beziehung haben, wird er tun, was er immer tut, wenn er vor neuen Herausforderungen steht. Er wird sie erkunden. Denn obwohl er ein Gewohnheitstier ist, so heißt das nicht, dass er Neuem gegenüber nicht aufgeschlossen ist. Er ist kein Abenteurer, der nach immer neuen Erlebnissen sucht. Er findet Frieden darin, zu genießen, was er kennt und für gut befunden hat. Doch wenn sich ihm etwas Neues auf dem Silbertablett bietet, dann ist er durchaus bereit, sich darauf einzulassen.
„Das würde mich freuen." Tobys Stimme hat wieder an Festigkeit gewonnen und damit ist es beschlossene Sache.
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Missing Piece ✅
RomanceOliver ist ein guter Beobachter doch eines Morgens läuft ihm dieses eine Pärchen über den Weg, das er nicht einordnen kann. Irgendetwas stimmt nicht. Etwas fehlt. Aber was? Mit dem drängenden Gefühl, dass die beiden seine Hilfe brauchen könnten, bes...