Oliver schüttelt vor der Tür den Schirm aus und stellt ihn in einen bereitstehenden Ständer im Eingangsbereich des Wirtshauses, in das er vor dem Regen geflüchtet ist. Natürlich nicht irgendeine Gaststube, sondern sein Dienstagabend-Stammplatz. Er schaut sich um und stellt erleichtert fest, dass Tristan wohl noch nicht da ist.
Dafür begrüßt ihn der Wirt mit einem fröhlichen: „Da bist du ja, dein Platz ist frei. Dasselbe wie immer, nehme ich an?"
Er freut sich, dass man ihn noch fragt, bestätigt die Frage aber und bewegt sich dann auf die kleine Sitzecke zu, die aus zwei gegenüberliegenden Zweisitzer-Bänken mit einem Tisch dazwischen besteht. Müde legt er seine Jacke und seine Aktentasche auf dem hinteren Sitz ab und setzt sich daneben. Als Tristan kurz darauf bei ihm steht, ist er gezwungen, den Platz gegenüber zu nehmen, statt sich - wie sonst in letzter Zeit - neben Oliver niederzulassen. Kaum dass er sitzt, steht der Wirt mit den bestellten Getränken bereit und verschwindet kurz darauf mit der Beteuerung, dass das Essen auch nicht viel länger auf sich warten lassen wird.„Was ist los?" Tristans Frage klingt eher traurig als verärgert und Oliver muss kein Meister im Lesen von Emotionen sein, um die des Anderen zu erkennen. Tristan ahnt bereits, was jetzt kommen wird. Während er noch überlegt, wie er anfangen soll und ob er nicht zumindest warten soll, bis das Essen da ist, damit sie nicht unterbrochen werden, versucht Tristan, die Stimmung zu heben und Oliver gleichzeitig zum Reden zu bringen.
„Was ist los?", fragt er erneut. „Machst du Schluss mit uns?"
Die gekräuselten Lippen, die Oliver ihm daraufhin zeigt, lassen Tristan jedoch ergeben aufseufzen. „Scheiße."Die Enttäuschung, die aus allen Poren zu ihm herüberdringt, gefällt Oliver nicht, doch was soll er tun? Er hat sich überlegt, ob er beide gleichzeitig oder einen nach dem anderen ansprechen soll und nachdem er sich für letzteres entschieden hatte stand schnell fest, dass er zuerst mit Tristan reden muss. Zum einen ist er der vernünftigere der beiden und zudem der Dom von Toby. Doch dessen sexuellen Übergriffe bringen auch das größte Problem mit sich, denn so sehr Toby ihm auch in den Arm springen und am liebsten auf dem Schoß sitzen will, so sind seine Wünsche doch eher in der Friendzone zu halten als die von Tristan.
„Was willst du eigentlich von mir?", beschließt er schließlich, eine seiner nie gelösten Fragen zu stellen. Tristan lässt sich regelrecht nach hinten gegen seine Lehne fallen und sackt in sich zusammen. Ein Anblick, der so fremd ist und so gar nicht zu dem selbstbewussten, fast arroganten Dom passt, dass es Oliver weh tut, ihn so zu sehen. Doch er kann diese Fragen nicht ewig zurückstellen, nur um den anderen nicht zu verletzen. Schließlich geht es hauptsächlich um ihn und um seine Beziehung zu seinem Freund.
„Es ist wohl Zeit meine Karten auf den Tisch zu legen", erkennt der Dom, trinkt sein Bier in einem Zug aus und bestellt sich mit dem Wink des Glases ein Neues. Dann lehnt er sich vor und greift mit der Hand nach Olivers, die zwischen ihnen auf dem Tisch liegt. Der zieht sie jedoch weg, bevor Tristan sie erreicht. Ohne seine eigene Hand zurückzuziehen beugt er sich noch etwas mehr vor und gesteht mit einem rauen Flüstern: „Ich stehe auf Dich. Du entsprichst genau meinem Typ, groß, stark und muskulös. Du hast uns gestanden versatil zu sein und ich spreche dir Nehmerqualitäten zu, mit denen kaum ein Bottom mithalten kann."
Dann lehnt er sich zurück und im nächsten Augenblick werden die alten Gläser abgeräumt und volle vor sie hingestellt. Die Bedienung steht auch schon mit dem Essen bereit und so hat Oliver ein paar Minuten Zeit, seinen Schock zu überwinden. Er wusste, dass Tristan nicht lange um den heißen Brei herum reden würde, aber mit dieser Direktheit hat er nicht gerechnet. Besteck, dampfende Teller und kaltes Bier bleiben gänzlich unberührt, während sich beide anstarren. Als Oliver immer noch nichts sagt, fährt Tristan fast wütend fort, als wolle er sein Gegenüber dazu bringen, auszurasten.
„Oliver, ich will dich vor mir, auf allen vieren, und dich von hinten nehmen, hart und rücksichtslos und ohne jede Sorge, dass du daran zerbrichst. Die meisten Bottoms wollen mit Liebe behandelt werden, nicht mit Kraft, doch in dich will ich stoßen, ohne mich zurückhalten zu müssen. Ich will in dich stoßen und dich um den Verstand vögeln. Ich will dich."Ein ungläubiges Kopfschütteln ist alles, was Oliver ihm geben kann. Er kann sehen, wie sehr es Tristan kränkt, dass er keine stärkere Reaktion von ihm erhält. Doch so ist er nunmal. Er reagiert auf Stress mit ausgesprochener Ruhe. Tristan ist zum Glück niemand, der so leicht aufgibt. Seine Blicke fordern Oliver ebenso heraus wie seine Worte und für einen Moment ist Oliver in dem Bild gefangen, dass ihm der Dom gezeichnet hat.
„Was noch? Willst du mich fesseln? Mir Gewalt antun? Mich schlagen? Mir Schmerz zufügen?"
Wie bei den meisten Mitmenschen sind Olivers Vorstellungen von BDSM sehr beschränkt, auch wenn er sie nicht von Grund auf verurteilt. Doch Tristan setzt sich wieder gerade auf und beugt sich etwas vor.
„Ich bin kein Sadist, Oliver.", antwortet er ruhig und offen. „Ich habe keine Freude daran, anderen Schmerzen zu bereiten und solange du nicht um solche Behandlungen bettelst, werde ich sie sicher nicht initiieren. Aber ich übernehme gerne die Führung, verlange sie im Bett sogar. Und loslassen zu können? Mit aller Kraft und ohne Grenzen, die mich einschränken? Ja bitte."Wieder schüttelt Oliver nur den Kopf, dann schlägt er die Hände vor dem Gesicht zusammen. „Oh. Mein. Gott!"
Eine Weile bleibt er in sich zurückgezogen, unsicher, wie er damit umgehen soll. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Freundschaft zu retten? Er weiß nicht, wie lange er so da sitzt. Er wollte Tristan herausfordern, seine Taten zu überdenken und ihn daran erinnern, dass er mit seiner Flirterei zu weit geht. Wie konnte er ahnen, dass dessen Ziele so weit über alle Grenzen einer Freundschaft hinausschießen?„Oliver?" in Tristans Stimme liegt auf einmal die Stärke und Arroganz eines Bosses, der seine Angestellten abmahnt. Toby nennt sie seine Dom-Stimme und in diesem Moment versteht Oliver, was er damit meint. Sie ist herrisch, fordernd und lässt kaum Gegenwehr zu.
„Iss jetzt, Oliver. Und dann reden wir weiter."
Er weiß nicht, wie lange er sich hinter seinen Händen vor dem Unvermeidlichen versteckt hat, doch das Essen ist nur noch lauwarm, also war es wohl länger als gedacht. Gehorsam greift Oliver nach dem Besteck. Er isst, er trinkt und er denkt. Seine Blicke stur auf den Teller gerichtet. Heute ist da kein Platz für Augenkontakt mit anderen Gästen oder Flirten mit Tristan. In ihm macht sich eine Trauer breit, die dafür sorgt, dass ihm das Essen fast im Halse stecken bleibt. Bereits nach der Hälfte gibt er auf, schiebt den Teller von sich und stürzt stattdessen das Bier die Kehle hinab. Schließlich hebt er seinen Blick und entdeckt in Tristan dieselbe Trauer, die er in sich spürt. Auch er will nicht, dass die Freundschaft endet.Aber wie soll das gehen?
„Du bist in einer festen Beziehung, Tristan. Und es ist keine offene Beziehung. Dein Mann vertraut dir. Willst du ihn für mich verlassen?"
Der Angesprochene schüttelt sofort vehement den Kopf, was Oliver etwas beruhigt. Noch scheint er wenigstens an dieser Stelle keinen Schaden angerichtet zu haben.
„Wir sind ein Paar und das ist etwas Festes. An meiner Beziehung zu Toby wird sich nichts ändern."
Na Klasse. Das ist nicht wirklich besser.
„Gut", erklärt er trotzdem. „Und ich bin weder daran interessiert, eine Affäre hinter seinem Rücken zu sein, ..."
„Es wäre nicht hinter seinem Rücken."
Tristans leise Worte unterbrechen ihn nur kurz und lassen ihn dann kopfschüttelnd fortfahren.
„... noch werde ich mich zwischen euch drängen. Sorry Tristan, aber so einer bin ich nicht."
Mit diesen Worten erhebt er sich und stürmt aus dem Lokal. Es ist ihm egal, ob Tristan die Rechnung bezahlt oder er sie nächste Woche auf dem Deckel stehen hat. Der Wirt wird damit keine Probleme haben. Es ist ihm auch egal, was Tristan noch zu sagen hat. Was ihm nicht egal ist, sind die letzten Worte, die er Tristan sagen hört, bevor er außer Hörweite ist. Nicht laut, aber eindringlich.
„Aber wir würden dich gerne rein lassen."Da er sogar seinen Schirm vergessen hat, steht Oliver eine Stunde später völlig durchnässt und unterkühlt im Badezimmer seiner Wohnung, reißt sich die Klamotten vom Leib und verschwindet unter der Dusche. Die tiefe Trauer um den Verlust einer Freundschaft, die ihn auf dem Heimweg geplagt hat, scheint vom Regen weggewaschen zu sein. Die Sorge, dass er nun vielleicht auch Toby nicht mehr wiedersieht, wird plötzlich von einer unbändigen Lust verdrängt. Die Bilder, die ihm Tristan in den Kopf gemalt hat, entfalten ihre Kraft und machen sich selbständig und sein Körper summt vor Begeisterung. Der in der Dusche in passender Höhe an der Wand angebrachte Dildo reichte ihm bisher als fester Partner aus. Nun muss er herhalten, als sich Oliver nach kurzer Vorbereitung mit wasserfestem Gleitgel selbst darauf aufspießt und so wild und hart dagegen hämmert wie nie zuvor. Beide Hände gegen die Wand auf der anderen Seite gestemmt, verleiht er seinen Stößen noch mehr Kraft, bis er - ohne sich selbst anderweitig zu berühren - in einem Orgasmus explodiert, der ihn Sterne sehen lässt - und Tristan.
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Missing Piece ✅
RomantikOliver ist ein guter Beobachter doch eines Morgens läuft ihm dieses eine Pärchen über den Weg, das er nicht einordnen kann. Irgendetwas stimmt nicht. Etwas fehlt. Aber was? Mit dem drängenden Gefühl, dass die beiden seine Hilfe brauchen könnten, bes...