10 Ambush

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Der Herbst ist in vollem Gange. Während die Sonne noch darum kämpft, wenigstens die immer kürzer werdenden Tage zu erwärmen, spielt der Wind ihr ein Schnippchen und lässt die Menschen frösteln. Er treibt ihr außerdem Wolkenfelder in den Weg, die sich grau über sie legen, bevor sie langsam weiterziehen oder dort auf die Erde herabregnen, wo sie zu schwer werden.

Oliver hat sich etwas von seinen beiden Freunden zurückgezogen, um zu ergründen, wo er steht und wie es für ihn jetzt weitergehen kann. Er will außerdem dem Paar die Möglichkeit geben, sich auf sich selbst zu besinnen, ohne seinen Einfluss, von dem er nicht mehr sicher ist, ob er gut oder schlecht ist. Eine Woche lang hat er dafür seine Gewohnheiten umgestellt. Er war einkaufen und hat alleine in seiner Wohnung gefrühstückt und auch sonst viel Zeit in dieser oder seinem Büro verbracht. Lange konnte er das nicht durchhalten. Gerade jetzt ist die Zeit, in der man sich um so mehr darum bemühen muss, die Obdachlosen gut unterzubringen, damit sie die nasskalten Tage und bereits frostigen Nächte überstehen, bevor sie der Winter ganz umhaut. Also ist er schon bald wieder in seinen Gewohnheiten gefangen.

Ihm ist nicht entgangen, dass ihn die beiden Männer ebenfalls in Ruhe gelassen haben. Sie haben nicht versucht, ihn telefonisch zu kontaktieren und selbst jetzt, wo all seine Routinen wieder ordnungsgemäß laufen, taucht keiner von ihnen auf. Routinen, die nur noch halb so schön sind, seit sie nicht mehr mit einem der beiden geteilt oder von ihnen unterbrochen werden. Oliver vermisst sie mehr und mehr, ihre Aufmerksamkeiten, ihre Zuwendungen, den Spaß, den sie gemeinsam hatten und die Lust, die immer leise unter seiner Haut geprickelt hat, wenn er mit ihnen zusammen war. Letzteres wird ihm erst jetzt bewusst, wo es fehlt. Wie konnte er es vorher übersehen?

Auch seine Freude an der Beobachtung und Interaktion mit fremden Menschen hat gelitten. Jetzt ist er viel öfter in seinen eigenen Gedanken versunken als offen für seine Grußfreunde und andere und er vermisst das. Doch mehr vermisst er Toby an seiner Seite, der diese Freuden mit ihm teilt. Und er vermisst Tristan, der ihm mehr als jeder andere das Gefühl gibt, begehrenswert zu sein. Etwas, von dem er nie gedacht hätte, dass er es überhaupt anstrebt. Mit hängendem Kopf läuft Oliver durch den Park. Er kommt von einem Obdachlosen-Camp, bei dem er warme Decken und einen Campingkocher abgeliefert hat. Leider konnte er niemanden von dort dazu überreden, in eines der Wohnheime zu ziehen, die sich langsam zu füllen beginnen. Heute ist die Sonne der Gewinner des Tages um den Platz am Firmament und legt sich wie ein wärmender Mantel um seine angespannten Schultern. Dann schaut er auf, weil er Leute auf sich zukommen spürt und erstarrt mitten im Ausweichschritt, als ihm klar wird, dass die beiden vor ihm nicht vor haben, ihn einfach passieren zu lassen.

„Hey, Großer!" Tobys Lächeln ist unsicher, seine Stimme leise und gebrochen und es zerreißt Olivers Herz.
„Können wir reden?" Tristan übernimmt wie immer die Führung, er wirkt härter als sonst und irgendwie unnahbar. Doch Oliver entgehen die forschenden Blicke nicht, die prüfen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Auch dass die beiden Händchen halten fällt ihm auf. Ein positives Signal, denn das haben sie bisher selten getan. Es passt nicht zu ihrer Dom-Sub-Verbindung, hatten sie ihm auf seine Frage hin einst erklärt. Was hat das also jetzt zu bedeuten? Okay, seine Neugier ist offiziell geweckt und er muss gestehen, es wird höchste Zeit für ein neues Gespräch. Er vermisst diese beiden, verdammt noch mal. Wenig später sitzen sie in einem Bistro mit einem Kaffee für Oliver, einem Latte für Toby und einem Espresso für Tristan sowie einer Platte mit unterschiedlich belegten Brötchen zwischen sich.

„Wir wollen nicht, dass unsere Freundschaft endet." Wieder ergreift Tristan zuerst das Wort und Oliver hält das Gespräch weiter in Gang, indem er gesteht, dass es ihm genauso geht. Vorsichtig und fast zaghaft unterhält man sich über allgemeine Dinge und das Wetter. Die beiden erzählen, was sie in der letzten Woche alles getan haben und fragen Oliver nach seinen Erlebnissen aus. Ganz bewusst halten sie sich dabei mit dem Flirten zurück und gehen auf ihn und seine Wünsche ein. Es gibt nichts, worüber Oliver sich beschweren kann. Nichts, was er ihnen vorwerfen kann. Nichts, außer dass es sich komplett falsch anfühlt. Schnell muss Oliver sich eingestehen, wie sehr er es vermisst, der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten zu sein und ihre Zuneigung zu spüren. Alles fühlt sich unnatürlich an, als ob ein Filter zwischen ihnen liegt und ihm einen Teil der Wirklichkeit dahinter entzieht. Aber ist es nicht das, was er will?

Oliver überlegt, wo er eigentlich wirklich steht. Nicht dazwischen, das machen ihm die verbundenen Hände der beiden klar, aber auch nicht dabei. Im Moment eher daneben, wie er es wollte und auch wieder nicht. Denn vorher war er dabei und das ist es, was er vermisst. Die Nähe und Wärme der beiden, die ihn einbeziehen. Aber wäre das wirklich eine Möglichkeit auf Dauer?
„Wisst ihr eigentlich, was ihr genau wollt?", stellt er ihnen die Frage, bevor er sie überdenken kann und hat dabei zum ersten Mal nicht wirklich die anderen im Sinn, sondern sich selbst.
Tristans und Tobys Köpfe schießen herum. Sie sehen sich an - fragend, verhaken ihre Blicke ineinander - nachdenklich, dann nicken sie sich langsam zu - bestätigend. Tobys Kinn macht eine beherzte Aufwärtsbewegung, bevor sich beide wieder Oliver zuwenden, der das ganze Spiel neugierig, fasziniert und auch etwas unsicher beobachtet hat.
„Dich!", rufen sie gleichzeitig aus und starren ihn herausfordernd an, abwartend, hoffend, sogar etwas ängstlich?

Jetzt gilt es. Kein drumherum Gerede mehr. Kein hätte, wäre, wenn und vor allem keine Beurteilung ihrer Situation durch gesellschaftliche Normen und Standards. Oliver ist nicht der Mann, der durch das Leben wandelt, auf der Suche nach Abenteuern. Doch wenn sich ihm plötzlich eins in den Weg schmeißt, dann ist er bereit, den Stier bei den Hörnern zu packen und den wilden Ritt zu wagen. Also los Cowboy. Schwing dich auf den Rücken dieses ungezähmten Hengstes und schau, wohin er dich bringt. Es mag ein wilder Ritt werden, er mag dabei abgeworfen und vielleicht sogar verletzt werden. Aber was ist die Alternative? An die Seite treten, zurück in sein langweiliges, immer gleiches Leben, und dabei vielleicht das Beste verpassen, das er je erleben wird? Er hat die beiden verdammt noch mal so sehr vermisst und sich dabei selbst verloren. Jetzt ist es Zeit aufzusatteln und dem Leben die Sporen zu zeigen.

„Okay, lasst uns reden."

Missing Piece ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt