2. Es geht los

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Spice. Eigentlich hieß er Sebastian Knorr. Den Spitznamen bekam er in der Schule, aber er gefiel ihm wohl. Er war ein paar Monate jünger als ich, erst 21. Und er war immer cool drauf, schien nie Probleme zu haben. Er war 1,85 groß, sportlich und durchtrainiert. Spice hatte dunkle Haare, die er meist sehr kurz trug, blaue Augen, eine gerade Nase und trug eine Nickelbrille. Spice war immer gut gelaunt, offen mit anderen Leuten, redete und lachte viel; er war ein richtiger Optimist. Der ganze Horror, für den es meiner Meinung nach keinen Grund gab. Aber Spice hatte einen Grund: Er war mit der schönsten und intelligentesten Frau weit und breit zusammen. Sie hieß Carina. Spice kam aus einer reichen Familie, seinem Vater gehörte eine Baufirma. Er hatte noch einen vier Jahre älteren Bruder namens Sören, der war ein Weltenbummler, ständig unterwegs.

Verglichen mit Spice war ich kein gut aussehender Junge. Ich war fast genauso groß wie er, aber schlaksig und ungelenk, mit dünnen Armen und Beinen. Meine dunkelblonden Haare standen nach allen Seiten ab, ich hatte eine eckige Stirn, graue, tief liegende Augen, von denen einige Leute sagten, sie würden entweder böse oder verzweifelt in die Welt gucken. Meine Nase war ein Zinken und mein Mund war schmal, wie mit einem Rasiermesser ins Gesicht geschnitten. Ich hatte auch nicht Spice' Selbstbewusstsein. Ich kam mit den meisten Leuten nicht klar, was daran lag, dass ich ein Intellektueller war, schon immer. Deswegen trug ich auch eine Brille mit schwarzem Plastikgestell. Mein Vater war Ingenieur bei einem Chemiekonzern in Leverkusen, meine Mutter Apothekerin. Geschwister hatte ich keine. Meine erste und einzige Freundin, Dorothea, hatte ich in der 12. und 13. Klasse, fast zwei Jahre lang. Aber eigentlich war nur das erste halbe Jahr schön, dann fing sie an, mir mit ihrer blöden Anspruchshaltung auf den Sack zu gehen. Ehrlich, oft hasste ich Menschen einfach nur.

Unsere Freundschaft war eigentlich erstaunlich, weil wir fast nichts gemeinsam hatten. Nichts, außer Trekking. In der Schule waren wir damit Sonderlinge. Wir kamen darauf, als wir eines Tages in der Philosophiestunde das Thema „Der Sinn des Lebens" hatten. Es musste in der 11. Klasse gewesen sein. Wir sollten eine Liste erstellen, was wir uns darunter vorstellten. Während von den anderen Leuten Dinge kamen wie „Liebe", „42", „Familie", „Sex and Drugs and Rock'n'Roll", „Fragezeichen", „Erfüllung im Job"; schrieb Spice „Freiheit und Abenteuer" und ich: „Die Welt sehen". In der anschließenden Diskussion stand niemand auf unserer Seite. Die einen behaupteten, Reisen hätte doch gar keinen Zweck, es gäbe doch Fernsehen; die anderen fanden unsere Interpretation des Begriffs „Sinn des Lebens" wenig zielführend.

„Welche Vorstellung kann man von Zielen im Leben haben, wenn man das Leben gar nicht kennt", sagte ich.
„Erstmal muss man Dinge ausprobieren. Sehen, wie man in verschiedenen Situationen reagiert. Rausfinden, wer man eigentlich ist", ergänzte Spice.
„Ziele und Sinn des Lebens sind durch die Gesellschaft vorgegeben. Durch die Rolle, die man in ihr einnimmt. Rumreisen, losgelöst von sozialen Bindungen und ohne jede Verantwortung, das ist ... sinnloser Hedonismus. Durch so etwas findet man nichts." Das war Anna-Sarah, die Klassenschönste und -beste.
„Oder man entscheidet sich bewusst dagegen. Eine vorgeschriebene Rolle in der Gesellschaft einzunehmen, meine ich", warf Mirko ein, der seine Haare heute rotgrün gefärbt trägt, nicht mal im Klassenraum seinen Parka auszog und die Füße in Doc Martens auf einen Stuhl vor seinem Tisch gelegt hatte.
„Was dann natürlich auch eine Rolle innerhalb der Gesellschaft ist. In der Randzone, als Outlaw, gewissermaßen die Definitionsgrenze der Gesellschaft ...", erwiderte Anna-Sarah.

Nach der Stunde kamen Spice und ich ins Gespräch. Vorher hatten wir nie mehr als fünf zusammenhängende Worte miteinander gewechselt. Aber beim Thema Reisen verstanden wir uns beinahe blind. Ein paar Wochen später fuhren wir an die Ostsee und zelteten auf Rügen, im Frühjahr, als viele Zeltplätze noch geschlossen waren. Im Sommer fuhren wir mit dem Mountainbike die Westküste Schwedens hinauf, ein Jahr später machten wir eine Gebirgstour in Norwegen. In der Schule hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Er war beliebt, hatte viele Freunde, feierte gern und spielte in einer Band. Während ich ein Bücher-Nerd war, immer nur am theoretisieren ... Mein Kopf hing in den Wolken, während die Beine auf dem harten Boden der Realität stolperten. Nach dem Abitur verloren wir uns aus den Augen. Er hatte wohl in Düsseldorf angefangen zu studieren, Ökologie oder so.

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