11. Vom Dunkel ins Licht

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Ich schlug die Augen auf. Ein schmaler Lichtstreifen lag über meinem Gesicht. Ich hatte wieder seltsam geträumt und dachte bestimmt zehn Minuten darüber nach, wo ich mich befand. Der Weg durch den Nebel ... der Gletscher ... der Wasserfall ... der Regen, der Bus, Hekla, Geysir, Jana ... die Vorträge der beiden verrückten Typen in der Berghütte ... Wie in einem zerbrochenen Spiegel sah ich Bildfetzen vor mir, die sich erst langsam zu einem Gesamtbild zusammenfügten. Plötzlich war ich hellwach. Weg, weg, weg, dachte ich, hier wird's drückend ... Ich kramte den Arm aus dem Schlafsack, Armbanduhr, kurz vor halb sechs. Draußen wurde es gerade hell. Ich schälte mich aus dem Bett und rüttelte Spice wach.
„Lass uns abhauen, jetzt!"
„Waaa ...?"
„Psst!"

Wir stopften unsere Sachen in die Rucksäcke, so leise wie möglich. Snjolf und Marco schliefen, Snjolf schnarchte leise. Wir schoben die Tür gegen den Schnee einen Spalt breit auf. Draußen dämmerte der Morgen und tauchte die Berge um uns herum in dunkel-gelbes Zwielicht. Der Schnee hatte nachgelassen, aber es war bitterkalt. Das Halbdunkel war unheimlich. Wir rutschten mehr, als das wir liefen, immer schneller, als fühlten wir uns verfolgt. Ich bekam Paranoia. Die hatten doch gehört, als wir aufbrachen und jetzt ... Sie hatten uns die ganzen Scheiß-Geschichten erzählt, um uns in ihre finstere Welt hinabzuziehen, jetzt waren sie bestimmt hinter uns her. Immer wieder drehte ich mich um, ob sie hinter uns auftauchten.

Der Pass Fimmvörðuháls war eine kleine, felsige Hochebene zwischen den Gletschern. Sie umgaben uns, lagen im Nebel, bläulich und weiß, bedrohlich. Der Mýrdalsjökull thronte östlich, unmittelbar über uns, mit seinem 750 Meter dicken Eisschild. Der Eyjafjallajökull im Westen, seine Ausläufer aus kohlschwarzem, aschebedecktem Schnee streckten sich uns entgegen. Im Norden, 15 Kilometer entfernt, schien der Tindfjallajökull durch die Wolken. Die Welt war verschwommen im Nebel und schwarz-weiß. Eine menschenfeindliche Mondlandschaft. Es war ein hässlicher Abstieg über endlose, kahle Schotterhänge. Über unseren Köpfen hingen dicke, graue Wolken. Die Sonne drang nirgends durch. Nach Stunden zogen sich Nebel und Wolken plötzlich auf wie ein Vorhang und wir traten hinaus ins Licht. Vor unseren Augen ergoss sich die zugleich raue und zarte Landschaft des Tals Goðaland, dem „Götterland". Zerklüftete Berghänge, von denen weiße Wasserfälle rauschten, Schotterebenen, grüne Weiden, Gletscherzungen, die sich in Seen auflösten, Schneisen, gegraben von wilden Gletscherflüssen, schillernde gelb-orangefarbene vulkanische Ablagerungen ... Im Hintergrund urwüchsige, vulkanische Bergkegel. Es war das Schwemmgebiet der Gletscherabflüsse von Eyjafjalla- und Mýrdalsjökull. Es lag über der Baumgrenze. Wir stiegen über einen schmalen Grat und einen Schotterhang in die Schlucht Hrunagil ab.

„Nein. Das sage ich dir als Freund, der der Meinung ist, dass man in einer Freundschaft offen miteinander umgehen sollte ..."
„Das ist die dümmste Einleitung, die ich je gehört habe ..."

Ich wusste verdammt noch mal nicht, was der von mir wollte. Spice saß auf einem weichen Fleckchen Mooswiese und fuchtelte mit den Armen.
„Guck dir das an!", schrie er. „Ein Wasserfall, der direkt vom Eisschild entspringt! Flussarme, die sich in alle Richtungen schlängeln! Moosbedeckte, schwarze Lavafelsen! Fette, grüne, tausend Meter hohe Berghänge!" Spice sprang auf und breitete die Arme aus: „Ich bete dich an, du rauer Norden!", brüllte er. „Du kaltherzige Weite!"

Spice steckte mich an. „Oh heilige Göttin der Wildnis!", heulte ich. „Führe und erleuchte uns, du unbarmherzige, launische Schönheit!"

Die dicken Jacken und Fleecepullover hatten wir bald abgestreift. Die Landschaft war hell und klar, ein leichter Wind kam von den Bergen her.

„Es kommt mir so vor, als wäre ich durch einen dunklen Vorhang getreten ... Irgendwas war da zwischen innen und außen und jetzt ist es weg ..." Ich hatte es ausgesprochen und wunderte mich, vorher die Worte kamen. „Als wäre ich aus einem Schatten getreten, von dem ich nicht wusste, dass er da war ..."

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