Wir zelteten an der Flussbiegung der þjórsa. Es war spät nachts, aber ich lag wach. Draußen erklangen unheimliche Töne. Tief und dann wieder hoch, kehlig, fast wie ein Gesang. Dann war da auch etwas wie ein Trommelrhythmus.
„Was kann das sein?", fragte ich Spice, der auch noch wach war.
„Weiß nicht. Wir werden wohl nachsehen müssen ..."Geduckt schlichen wir die Uferböschung hinauf. Als wir unsere Köpfe über die Böschung streckten und die Ebene vor uns lag, konnten wir ziemlich genau im Norden einen orange-roten, flackernden Lichtpunkt erkennen.
„Das ist ein Feuer", sagte Spice, „das Geheul scheint von dort zu kommen ..."Wir schlichen uns bis auf etwa 20 Meter an das Feuer heran. Es war Gesang und wurde von dumpfen Trommelschlägen begleitet. Es war ein Bild wie aus einem Land vor unserer Zeit. Um das Feuer hockten sechs Gestalten. Ein alter Mann mit langen weißen Haaren und Vollbart. Rechts neben ihm saß eine Frau, etwa 50, mit weißen Strähnen im Haar. Sie hatte ein ovales, zierliches Gesicht, das irgendwie vergeistigt aussah. Auch sie saß da mit nacktem Oberkörper. Links von dem alten Vorsänger saß ein jüngerer Mann mit Stirnglatze und einer Trommel auf den Knien. Neben ihm ein Typ in unserem Alter, daneben ein älterer, dicklicher Mann. Rechts saß eine etwas jüngere Frau, vielleicht 30. Spice und ich sahen uns an. Was, bei Thors Hammer, war denn das?
Der Kopf des alten Mannes mit den langen weißen Haaren und Bart senkte sich wie in Zeitlupe. Dann, fast ohne seinen Gesang zu unterbrechen, rief der Mann: „I greet you, fellows!"
Was? Meinte der etwa ... uns? Es hatte wohl keinen Sinn, sich länger zu verstecken. Wir traten näher heran.
„Very sorry ...", stotterte Spice, „our tent is nearby and we heard some strange noises. We just wanted to find out what it is ..."
„We understand this. No complaints." Der alte Mann redete zu uns wie ein gütiger Vater. Er forderte uns auf, uns zu ihnen zu setzen. Im flackernden Licht des Feuers wirkte sein Gesicht unheimlich, koboldhaft.„Wir hätten nicht gedacht, dass hier sonst noch jemand in der Nähe ist", sagte da die ältere Frau, die rechts neben dem Mann saß, „ihr seid Deutsche, oder?"
Wir nickten verblüfft. Die Frau, die uns etwas verlegen machte, weil sie barbusig dasaß, hatte einen sächsischen Akzent. Sie hieß Klara und kam aus Dresden. Sie war so etwas wie die Organisatorin der Gruppe. Der alte Mann mit den langen, weißen Haaren hieß Mike und war Amerikaner. Die jüngere Frau mit rundem Gesicht und Ponyfrisur war Giulia, eine Italienerin. Dann war da noch Christine, eine große, stämmige Dänin. Der Mann mit der Trommel, Ivan, war ein Spanier mit Backenbart und athletischem Oberkörper. Der Typ in unserem Alter mit dem Fuchsgesicht war Patrick, auch ein Deutscher. Neben ihm saß der unscheinbare Fabrizio, ein Italiener. Klara lachte hell auf, ansteckend.
„Wenn ihr eure Gesichter sehen könntet! Was ihr wohl gloobt, was wir hier machen?"
„Keine Ahnung ... irgend 'ne esoterische Geheimzeremonie, vielleicht?"Klara schüttelte den Kopf. „Esoterik ... nein. Damit haben wir nichts zu tun. Spirituell, würde ich sagen ... Wir sind auch kein Geheimbund, sondern einfach Suchende."
„Wir sind auch Suchende", sagte Spice, „wir wissen aber nicht, was wir suchen ..."
„Seht ihr, und schon haben wir was gemeinsam ..."Sie nannten sich „Bruderschaft des Lichts", erzählte Klara. Sie hatten sich über das Internet kennengelernt. Zwei-, dreimal im Jahr trafen sie sich. Sie beriefen sich auf die mittelalterliche Glaubensgemeinschaft, die sich selbst „Gute Christen" genannt hatte, aber meist als Katharer bezeichnet wurden. Vor 800 Jahren waren sie schwersten Verfolgungen durch die römisch-katholische Kirche ausgesetzt gewesen. Tausende waren auf Scheiterhaufen verbrannt worden. Klara erzählte:
„Das Mittelalter wird heute als dunkles Zeitalter gesehen. Unwissenheit, Aberglaube, Unterdrückung bestimmten das Leben der Menschen. Aber es war auch eine Epoche des Aufbruchs, der Suche nach Erkenntnis. Es gab tausende von Sekten, Geheimgesellschaften und Kulte. Und die katholische Kirche versuchte, sie alle zu dominieren. Aus einer Strömung des Urchristentums, der Sekte der Bogumilen, entwickelte sich im Frankreich des 11. Jahrhunderts die Sekte der Katharer. Für sie war die Vorstellung eines einzigen Gottes, der sowohl über die Welt des Lichtes, der Seele und des Geistes, als auch über die Welt der Dunkelheit, des Bösen und der Materie, gebietet, absurd. Gott war ein Lichtwesen, der Gebieter der immateriellen, geistigen Welt. Sich mit ihm wiederzuvereinen, war das Ziel, der Sinn des Lebens jedes Gläubigen. Gottes Macht bezog sich nicht auf die materielle, „dunkle" Welt. Hier herrschte der Fürst der Finsternis. Der ursprüngliche, reine Mensch war ein Wesen des Lichts und körperlos. Die Seele, die in uns wohnt. Aber die Menschen waren „gefallene Seelen", durch den Fürsten der Finsternis verdorben. Die materielle Welt lockte mit Sünden, Verführungen, Verfehlungen. Nur durch geheime Riten und durch mehrere Kreisläufe von Leben, Sterben und Wiedergeburt der Seele konnte ein Mensch zurück in den Status der Vollkommenheit gelangen.
DU LIEST GERADE
Wildnisland
AventuraAlex Wiese, 22, steht nachts auf dem Dach seiner Universität. Will er springen? Plötzlich klingelt sein Telefon, es ist Spice, sein ehemaliger Schulfreund. Spice' Freundin hat ihn verlassen, damit wird er nicht fertig. Er schlägt Alex vor, zusammen...