4. Der Wolf

1 0 0
                                    

Der Bus kam in der kleinen Stadt Selfoss an. Hier mussten wir in den Bus Richtung þingvellir umsteigen. Die beiden Mädchen blieben in Selfoss. Ich blickte auf das dunkelhaarige Mädchen und es fühlte es sich an, als zersägte jemand mein Herz mit einem stumpfen, rostigen Sägeblatt ... Es war so ein Moment, in dem sich die Zeit plötzlich zu einem Punkt komprimierte ... Wie im Zeitraffer liefen Träume und Illusionen an meinem inneren Auge vorbei: was, wenn ich sie wiedertreffen würde, was, wenn alles anders wäre ... in einer Parallelwelt, in der sie plötzlich feststellte, dass sie mich mochte ... Ich wusste nicht mal, wie ...

„Äh, wie heißt ihr eigentlich?", fragte ich erschüttert.
„Ich bin Charlotte ... und das ist Jana", sagte die Blonde. Wir verabschiedeten uns voneinander. Wenig später kam unser Bus an. Ein ziemlich alter Kleinbus, voll mit Leuten. Wir fuhren los. Passierten Berge und Täler. Hier war Islands Kernland; in den weiten, grünen Flussebenen hatten sich die ersten Siedler niedergelassen. Südöstlich von uns lag der berühmte Hof Oddi, das literarische Zentrum des Mittelalters, im Nordosten lag der alte Bischofssitz Skálholt. Ich guckte nach draußen und konnte mir bildlich vorstellen, wie da in Schafsfelle gekleidete Männer auf ihren zottigen Ponys entlang galoppierten, Äxte und Schwerter schwangen. Heute war hier das landwirtschaftliche Zentrum, wo tausende Rinder und Schafe weideten.

Auf dem Weg nach þingvellir musste der Bus einen kilometerlangen Anstieg bewältigen. Die Straße schlängelte sich in Serpentinen zwischen den Berghängen hinauf. Nach zwei Stunden erreichten wir unser Ziel; der Bus kam rumpelnd und hustend inmitten einer großen Staubwolke zum Stehen. Ein weißer Kiosk mit Tankstelle. Das Wetter war strahlend schön. Und westlich der Straße lag die unbegrenzte Weite ... Ein riesiges grau-braun-grünes Lavafeld, erst am Horizont begrenzt von schroffen Berghängen.

þingvellir war ein besonderes Gebiet. Die Erde war hier ständig in Bewegung, kilometerlange Spalten rissen auf, das Land senkte sich ab. Es war ein Rift Valley, ein tektonisch aktives Tal, mit einem Durchmesser von 200 Kilometern. Es lag direkt auf dem mittelatlantischen Rücken, dem Gebirgszug im Atlantik, eine der „Nähte" der Erdkruste, wo ständig Magma aus dem Erdmantel nach oben drang. Das Magma baute das Gebirge auf und schweißte neue Teile an die Ränder der Platten der Erdkruste, welche von hier auseinander drifteten. Da, wo die Gipfel des untermeerischen Gebirges lagen, war die vulkanische Aktivität besonders hoch. Einige durchstießen sogar die Meeresoberfläche. Und wir standen gerade darauf ... Wir betraten die Almannagjá, die „Allmännerschlucht", die von zwei senkrechten Felswänden aus Basaltgestein begrenzt wurde. Sie war eine Erdspalte, die durch das Driften der Kontinentalplatten immer weiter aufriss, fast einen Zentimeter im Jahr. Die westliche Seite der Schlucht bewegte sich auf Nordamerika zu, die östliche auf Europa. Im Süden lag der riesige See þingvallavatn. Die Schlucht war grün, von Sonnenschein durchflutet. In ihrer Mitte stürzte der Fluss Öxará in einem kleinen Wasserfall hinunter. Wir schwitzten unter unseren Rucksäcken und waren wie die Eintagsfliegen angesichts eines gewaltigen, dynamischen Prozesses, der sich für unser Aufnahmevermögen nur sehr langsam abspielte. Und wie die Eintagsfliegen waren wir mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Jedenfalls spielten sich in meinem Kopf ganz andere dynamische Prozesse ab, meine Gedanken kreisten beständig um ein kleines, schwarzhaariges Geschöpf mit braunen Augen ...

Seit Stunden liefen wir über die Lavaebene westlich des Nationalparks þingvellir, auf der Suche nach einem geeigneten Platz zum Zelten. Es war jetzt, gegen Abend, ziemlich windig geworden.
„Wir können auf den Zeltplatz, da gibt's Wasserhähne", sagte ich. Ich schleppte schwer an meinem Rucksack. Innerhalb des Nationalparks war wildes Zelten verboten, sonst war es überall erlaubt.

„In die Wildnis!", schrie Spice. Er wollte unbedingt allein in der Wildnis sein, hatte er gesagt. Aber ich konnte an nichts anderes als an Jana denken. Ich musste sie wiedersehen! Die größte Wahrscheinlichkeit dafür gab es in Selfoss, das wusste ich. Also begann ich, Spice davon zu überzeugen, am nächsten Tag nach Selfoss zurück zu fahren, weil man von dort aus eine sehr viel bessere Busverbindung hätte. Auf einmal stolperten wir fast in einen kleinen Erdkrater, etwa zwei Meter tief.

WildnislandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt