12. Verloren im Nebelmeer

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Schließlich brachen wir auf. Wir bauten das Zelt ab, packten die Rucksäcke, schulterten sie und marschierten am Ufer des Gletscherflusses entlang, denselben Weg, den ich gestern genommen hatte. Bevor wir aber den Ausläufer des Gletschers erreichten, führte der Pfad nach Osten, aus dem Tal hinaus. Nach einem kurzen Anstieg mussten wir eine schmale, aber tiefe Schlucht überwinden, über die eine aus Seilen und Holzplanken bestehende, wacklige Hängebrücke führte. Weniger harte Männer als uns hätte das sicher erschreckt, aber uns machte das nichts aus. Ich warf einen letzten Blick auf den wolkenverhangenen Gletscher, den wir rechts liegen ließen. Mein Ausflug gestern hatte irgendwas bedeutet, auch wenn ich mir nicht sicher war, was ...

Dann standen wir vor einem mörderischen Anstieg. Mit gebeugtem Rücken, schwer auf die Trekkingstöcke gestützt und den Blick auf den Boden gerichtet, keuchte ich bergan. Nach harter Arbeit war eine kleine Berghütte erreicht. Sie war von weißen Bergen umringt, mitten in einem kleinen Tal. Wir erholten uns erst mal von der Strapaze. Der Himmel hatte sich komplett aufgezogen, die Sonne schien. Nach einer halben Stunde marschierten wir weiter. Hinter einem Bergrücken begann die berüchtigte Emstrur-Wüste. Man fragte sich natürlich, wie es Wüsten auf Island geben konnte, wo es ständig regnete. Es waren edaphische Wüsten: Nicht die Trockenheit des Klimas, sondern die Bodenbedingungen machten sie zu Wüsten. Auf vielen Lava- und Aschefeldern war der Untergrund so porös, dass der Boden das auftreffende Regenwasser nicht halten konnte. Es floss tief in den Untergrund ab und trat erst an anderen, weit entfernten Stellen wieder an die Oberfläche. Die Emstrur-Wüste war eine riesige, wahnsinnig schwarze Ebene, lebensfeindlich und wasserlos, es gab nur kleine Vegetationsinseln mit besonders zählebigen Moosen und Gräsern. Eine Kette hutförmiger Berge, einige 100 Meter hoch, durchzog sie. Von unserem Punkt aus erschien sie unermesslich groß zu sein, als bräuchte man Wochen, um sie zu durchqueren. Es wurde immer wärmer, der schwarze Untergrund zog die Sonnenenergie magnetisch an, wir schälten uns aus den dicken Sachen. Zu Fuß in der weiten Ebene unterwegs verging die Zeit unendlich langsam, weil sich der Ausblick auf die Landschaft nicht änderte.

„Sag mal, Spice, du bist doch Experte", sagte ich. „Wie kommt das eigentlich, dass es so wenig Vegetation auf Island gibt? Kaum Wald, fast nur Sträucher, Stauden, Gras und Moos ..."
„Eiszeit", sagte Spice kurz.
„Ja, aber die gab's woanders auch."
„Aber Island liegt im fast auf dem Polarkreis. Das Land war völlig von Eis bedeckt. Die Pflanzenarten sind ausgestorben und wegen der isolierten Lage der Insel noch nicht wieder zurückgekehrt. Samen und Sporen werden von Meeresströmungen, Höhenwinden, Zugvögeln, andere Tiere scheiden ja aus, und Menschen verbreitet. Kannst dir ja vorstellen, wie wenig da hier ankommt. Ich hab gelesen, dass es nur 440 Gefäßpflanzen-Arten auf Island gibt. In Europa sind es vier- bis sechsmal so viele ... Was du hier siehst, ist Melur-Vegetation, das heißt, vereinzelte Pflanzeninseln auf Stellen, wo es Wasser gibt. Meistens Leimkraut, Grasnelke, Sandkresse. Oberhalb dieser Zone kommt das Hochgebirge mit Permafrost. Da gibt es fast nur noch Flechten ..."

Am frühen Nachmittag erreichten wir eine bizarr geformte Felsformation, an der wir Mittagspause machten. Die Felstürme umrahmten einen Ausblick auf das bisher durchquerte Stück der Wüste, die Luft flirrte und stand völlig still, es war beinahe schwül. Wir aßen, waren bestens gelaunt und genossen den Blick über das Meer aus feinem schwarzem Lavasand, die Kette der Hutberge. Ganz, ganz weit hinten, kaum noch zu erkennen, schimmerte es weiß.
„Wir haben wirklich 'ne gute Zeit. Erst zwei Wochen hier und schon so viel erlebt", sagte ich.
„Und wir haben doch noch nicht mal an der Oberfläche der Wildnis gekratzt. Glaub mir, da kommt noch viel, viel mehr", antwortete Spice.
„Glaubst du, dass alles irgendwann zu Ende ist?", fragte ich.
„Geht's etwas konkreter?"

„Na ja, ich meine, wenn du glücklich bist, ist dir dann klar, dass es irgendwann vorbei sein wird? Zum Beispiel, du verliebst dich, kommst mit der Person zusammen, weißt du dann nicht, dass irgendwann Schluss sein wird?" Ich druckste herum. „Tschuldigung. Falsches Thema, oder?"

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 23, 2022 ⏰

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