Es klang dumpf aus Spice' Schlafsack: „Das Leben ... Was ist das überhaupt? Was wissen über das Leben?"
„Die Welt ist groß, und wir sind unter einer Glaskuppel aufgewachsen. Was können wir schon vom Leben wissen? Was wissen wir über Armut, Hunger, Krieg, Tod und Verzweiflung?"„Du musst immer alles ins Negative ziehen, Alex. Das was du meinst, ist nicht das Leben. Das Leben ist ein großes, saftiges Etwas, das man sich mit beiden Händen in den Mund stopfen muss, dass der Saft an den Seiten rausspritzt ..."
„Aber wie kannst du das große, saftige Etwas genießen, wenn du vorher nicht durch die staubtrockene Wüste gewandert bist, wenn du gar nicht weißt, was du da mit beiden Händen festhältst?"
„Da ist was dran ...", räumte Spice ein, „früher haben die Leute das gewusst. Sie wussten, wenn sie eine gute Zeit hatten, weil sie vorher eine schlechte hatten."
„Und heute hocken wir wie gemästete Meerschweinchen in unseren Käfigen", sagte ich.
„Hör damit auf, Mann. Wir können doch unsere Käfige verlassen. Anderswo sind Leute auch glücklich. Sie schneiden sich ein Stück ab vom Leben und mampfen es mit vollem Mund ... Die Welt ist groß, bunt und voll mit Pfaden, Wegen, Kreuzungen, Orten, Landschaften. Und wir können dahin gehen, können uns treiben lassen im Strom des Lebens und gucken, wohin er uns führt."
„Spice, das gefällt mir. Lass es uns so machen. Treiben lassen auf dem Strom des Lebens ..."Dann schliefen wir.
Sonntag Mittag fuhren wir mit dem Bus zum Kleifarvatn und dem Thermalfeld Krýsuvík, etwa 25 Kilometer südlich von Reykjavík. Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, ging es durch Lavafelder, endlose wellige, dunkle Ebenen. Die Lava war mit Moos und Flechten bewachsen, in einigen grünen Nischen wuchsen lilafarbene und weiße Staudenpflanzen. Sonst nur grau-braune Steinwüste. Über der düsteren Landschaft hing eine niedrige, graue Wolkendecke. Es war unheimlich. Und während der Busfahrt versuchte Spice, mich zur alten, nordeuropäischen Religion zu bekehren.
„Hab ich aus einer Übersetzung der Lieder-Edda des alten, isländischen Gelehrten Snorri Sturluson. Echt, das ist voll abgefreakt ..." Spice kramte ein paar zusammengefaltete Blätter aus seinem Rucksack und fing an, vorzulesen:„Am Anfang waren Kälte und Hitze. Die Welt war eine gewaltige, leere Schlucht mit Namen Ginnungagap. Auf der einen Seite der Schlucht lag Niflheim, das kalte Nebelheim. Auf der anderen Seite Muspellsheim, das Meer der lodernden Flammen. Aus der Kälte formte sich der Eisriese Ymir, die Hitze erweckte ihn zum Leben. Wo Niflheim und Muspellsheim sich nahe kamen, schmolz der Schnee. Der geschmolzene Schnee formte die riesige Kuh Audhumla. Ihre Milch nährte Ymir. Die Kuh leckte das Eis in ihrer Umgebung ab und leckte daraus einen Körper frei, einen großen, schönen Mann, Buri. Er ist der Vorfahre der Asen, der nordischen Götter. Odin, der Göttervater, ist der Sohn der Riesin Bestla und Bur, Buris Sohn. Der Riese Ymir paarte sich mit sich selbst. Unter seinen Armen wuchsen ein Mann und eine Frau, seine Füße bekamen einen sechsköpfigen Sohn. Sie sind die Ahnherren der Trolle und Riesen. Am Anfang beherrschten sie die Welt. Aber die Asen, Odin und seine Brüder erhoben sich gegen die finstere Herrschaft Ymirs und der Riesen und Trolle. Nach schweren Kämpfen tötete Odin Ymir. Aus dessen Wunden strömte so viel Blut, dass fast alle Trolle und Riesen, die Feinde der Asen, darin ertranken. Nur ein Riesenpaar konnte sich in die Nebelwelt flüchten. Die Asen legten die Leiche Ymirs über die Schlucht Ginnungagap und erschufen die Welt daraus. Ymirs Blut wurde das Meer, sein Fleisch die Erde. Seine Knochen und Zähne die Berge und Felsen. Die Haare wurden zu Bäumen und Gras. Seine Schädeldecke wurde das Himmelsgewölbe. Aus den kleinen Würmern in Ymirs verwesender Leiche entstand das unterirdische Volk der Zwerge. Sonne, Mond und Sterne erschufen die Asen aus dem Feuermeer Muspellsheim. Sonne und Mond fahren auf Himmelswagen um die Welt. Raureif und Morgentau sind Schaum aus dem Maul des Nachtpferds Rimfakse, das Tagpferd Skinfakse hat eine leuchtende Mähne. Die Himmelswagen halten niemals an, denn zwei Riesenwölfe jagen hinter ihnen her ..."
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Wildnisland
AdventureAlex Wiese, 22, steht nachts auf dem Dach seiner Universität. Will er springen? Plötzlich klingelt sein Telefon, es ist Spice, sein ehemaliger Schulfreund. Spice' Freundin hat ihn verlassen, damit wird er nicht fertig. Er schlägt Alex vor, zusammen...