6. Trek zum Tor der Hölle

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Heute ging es zur Hekla. Das war einer der gefährlichsten Vulkane der Erde und wir würden ihn besteigen. Die Hekla lag in einer kahlen Lavawüste. Früher war es eine bewaldete und fruchtbare Landschaft gewesen, bis die Hekla ausgebrochen war und sie völlig verwüstet hatte. Sie war ein schneebedeckter, rückenförmiger Zentralvulkan, der Gipfel lag auf 1491 Metern über Normalnull. Über 60 Ausbrüche hatten den Vulkanberg aufgeschüttet. Hekla-Ausbrüche waren Asche-Explosionen, deren Spuren sich fast überall auf Island fanden. Sie hatten Bauernhöfe verschüttet und Schafherden mit giftiger Asche getötet. Im Mittelalter nannte man die Hekla das Tor zur Hölle. Der schlimmste Ausbruch ereignete sich 1300, als der Vulkan ein Jahr lang Asche und Lava ausstieß und das ganze Land in ewige Nacht tauchte. Heute brach die Hekla etwa alle zehn Jahre aus: 1970, 1980, 1991, 2000. Und der letzte Ausbruch lag zehn Jahre zurück ...

Wir standen am Abzweig der Landstraße 26, acht Kilometer von der Stadt Hella entfernt. Von hier aus waren es 50 Kilometer nach Nordosten bis zur Hekla. Es hatte zu regnen aufgehört, die Sonne kam heraus. Die Umgebung war flach, Wiesen und Weiden erschienen in unwirklichem Grün. Die Luft roch nach frischem Gras. In etwa 15 Kilometern begann die dunkle Lavawüste, da, wo die Hekla herrschte. Es war vier Uhr nachmittags und die traurige Wahrheit war, dass wir keinen Plan hatten.
„Lass uns erst mal da sein, statt jetzt die Dinge zu verkomplizieren", hatte Spice gesagt, „Probleme lösen sich meist von selbst ..." Jetzt standen wir hier wie zwei Ochsen vor dem neuen Tor und verglichen die uns umgebende Landschaft mit der Karte.
„Kein Problem", sagte Spice. „Da ist die Straße. Unser Etappenziel ist dieser Bogen des Flusses þjórsa, in 25 Kilometern." Von Südwesten, vom Meer, kam Wind auf, der stärker wurde. Eigentlich fing jetzt erst alles an. Das Abenteuer, die Wildnis, die menschenleere Weite des Landes. Vorerst wanderten wir am Rand der schnurgeraden Asphaltstraße entlang. Vereinzelt passierten wir Gehöfte und Scheunen, Schafszäune.

Wir waren plötzlich voller Euphorie. Zwar drückte der Rucksack auf Schultern und Hüfte, aber der Wind schob uns förmlich vor sich her. Niedrig stehende Wolkenformationen flossen im Wind am Himmel entlang, änderten ständig ihre Formen und die Sonne erzeugte ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, Farben und Formen. Vor uns lag die Gebirgskette mit schneebedeckten Gipfeln und dem großen Vulkankegel im Zentrum. Es war diese weite Landschaft bis zum Horizont, von der ich geträumt hatte, als ich im Hörsaal der Uni saß. Es war, als könnte ich erst jetzt frei atmen. Ich erzählte es Spice, der nur grinsend den Kopf schüttelte. Der Wind war rauer geworden, wir stolperten beinahe, so schnell trieb er uns voran.
„Ich hab nicht gewusst, wie geil Laufen sein kann!" schrie Spice.
„Ja, ist das nicht phantastisch?!"

Ich breitete die Arme aus, so dass der Wind mich wie ein Segel vorantreiben konnte. „AAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHH!!!" schrie ich.
„YEEAAAAAAAHHHHHHHHH!!!" schrie Spice. Es war wie eine Befreiung. Der Urschrei.
„JAAANAAAAAAAAAAAAAA!!!" Die Schreie verhallten in der endlosen Weite. Alles flog von mir ab, die Beklemmung, die Komplexe, die Ängste. Wir waren Menschen, eins mit der gewaltigen Natur um uns herum.

Wir liefen vier, fünf Stunden, bis neun Uhr abends, dann konnten wir nicht mehr. Wir hatten den Rand des Lavafelds erreicht, die Landschaft verödete zur Halbwüste. Ein Meer aus grau-brauner Lava mit Fetzen grüner Moosflächen und ein paar Inseln, wo Staudenpflanzen und Kräuter wuchsen. Wir wussten nicht genau, wo wir uns befanden, die Flussbiegung war nicht in Sicht. Wir schlugen unser Zelt in einer kleinen Senke, 200 Meter von der Straßenböschung entfernt, auf. Die Abenddämmerung war seltsam ruhig, sie zeichnete rötliche Streifen auf die schneebedeckten Berghänge im Nordosten. Der Kegel der Hekla war jetzt deutlich zu sehen. Er beherrschte den Horizont. Der Wind säuselte, murmelte und brummte, wenn er auf ihm widerstehende Felsen traf. Wir verzogen uns ins Zeltinnere, um endlich vor dem Wind geschützt zu sein. Spice schraubte seinen Kocher zusammen. Es gab Nudeln in Käsesoße und kalten Hering aus der Büchse. Danach einen Liter heißen, süßen schwarzen Tee. Spice setzte seine Stirnlampe auf und studierte die Karte.
„Ich schätze, von der Flussbiegung sind es nochmal 15-20 Kilometer bis zum Gipfel ..."
„Ja, Luftlinie vielleicht, du Experte! Wir müssen aber zur Nordwestflanke, von wo die Besteigung möglich ist ..."
„Du bist und bleibst ein verdammtes Mädchen ..."

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