9. Eingeschneit

1 0 0
                                    

Wir standen morgens um sieben Uhr auf. Ich fühlte mich aufgequollen und übernächtigt. Es war unangenehm, in die feuchten Klamotten vom Vortag zu steigen. Wir aßen das Frühstück, das sie im Edda-Hotel anboten, dann gingen wir zur Tankstelle, wo es einen Supermarkt gab. Einen anderen gab es in so einem kleinen Ort offenbar nicht. Wir deckten uns mit ein paar Vorräten für die nächste Woche ein. Dann ging es los. Der Regen hatte aufgehört, offenbar waren die himmlischen Wassertanks vorerst leer. Wir liefen die Straße zurück bis zum Skógafoss, die halbe Wegstunde von gestern. Schließlich standen wir vor der 60 Meter hohen ehemaligen Steilküste. Die Wassermassen des Flusses Skóga stürzten hier senkrecht von oben hinunter. Eine gewaltige weiße, strömende Wasserwand, tonnenweise Wasser mit gewaltiger Energie. Donnernd traf sie auf den Felsgrund und war von einem Nebel aus Milliarden feinster Wassertröpfchen umgeben. Der Wassernebel durchnässte einen in wenigen Sekunden bis auf die Haut, wenn man zu nah ran ging. Über der Steilwand ballten sich schon wieder die Wolken zusammen; bedrohlich sah das aus. Neben dem Foss schlängelte sich in Serpentinen steil der Weg hoch. Der sollte unpassierbar sein?

„Und wir könnten jetzt im Hörsaal sitzen, vorne betet der Prof seinen Stoff herunter und langsam, langsam fallen einem die Augen zu ..." Spice seufzte.

Wie wir uns schließlich den Pfad hoch quälten und im Schlamm und auf glitschigen Felsen immer wieder ausrutschten, spottete jeder Beschreibung. Wir hackten die Trekkingstöcke schräg vor uns in den Boden und zogen uns Armlänge für Armlänge nach oben. Der Rucksack auf meinen Schultern zerrte und wollte in die andere Richtung, zwischen meinen Schulterblättern stach ein brennender Schmerz und wir waren bald über und über mit Schlamm beschmiert. Ich fiel auf den Bauch. Mein rechtes Knie knallte auf einen Felsen. Ich rappelte mich wieder hoch. Schließlich erreichten wir die obere Kante und zogen uns über sie. Vor uns lag jetzt eine weite, sanft ansteigende, grasgrüne Ebene, durch die sich der Fluss Skogá schlängelte. Wir ließen die Rucksäcke und uns selbst zu Boden fallen. Spice kramte den Kocher aus dem Rucksack und setzte Teewasser auf. Zeit für eine kleine Stärkung.

„Meine Fresse," stöhnte ich, „ich dachte zwischendurch, ich würde es nicht schaffen ... Jetzt weiß ich auch, was die mit 'unpassierbar' meinten ..."

Ich rieb mein höllisch schmerzendes Knie. Spice goss den dampfenden Tee in die Blechtassen. Dazu kauten wir ein paar Nüsse und Rosinen. Ich zündete mir eine Zigarette an, stieß den Rauch aus und starrte über die Sanderlandschaft zu unseren Füßen. Mitten in der riesigen grauschwarzen Ebene stand der pilzfömige Berg, der eine Insel gewesen war, als die Gegend noch das Meer bedeckte. Das sah fast abartig aus, wie ein Berg auf einem fremden Planeten.

„Wir hätten auch auf den Inselberg da klettern, in der Mitte eine Fahne aufpflanzen und uns zu einem unabhängigen Staat erklären können ...", schlug ich Spice vor. Das war ihm gerade mal ein nicht ganz echtes Grinsen wert.

„Und du wärst dann der Staatspräsident geworden, nehme ich mal an?"

„Selbstverständlich! Wer denn sonst?"

Wir liefen weiter. Noch regnete es nicht, auch wenn es danach aussah. Aber starker Wind war aufgekommen, der unangenehm durch die feuchten Sachen fuhr. Wir schlossen die mit Schlamm verschmierten Jacken bis unter das Kinn. Wir liefen stundenlang nebeneinander her, ohne ein Wort zu wechseln, jeder in seiner eigenen Gedankenwelt versunken. Ich dachte an Jana und was sie jetzt wohl machte. Ob sie etwas davon mitbekommen hatte, was ich für sie fühlte? Wie hatte das alles nur passieren können? Noch Tage zuvor hatte ich nicht einmal gewusst, dass sie existierte, und jetzt bedeutete sie mir alles ... Für ein Lächeln von ihr würde ich Bäume ausreißen und Berge versetzen. Dann dachte ich an Klara und was sie gesagt hatte: der dunkle Abgrund zwischen Körper und Seele, den wir nicht begreifen können. Die Verbundenheit mit den Menschen um uns herum, die wir tief in uns fühlten, aber nicht beschreiben konnten. Die Suche nach der Erkenntnis, die Menschen seit tausenden Jahren antrieb, um diese Dinge zu verstehen, die sich nicht verstehen ließen. Und ich hatte genau gewusst, wovon Klara redete, aber es noch niemals ausgesprochen ... Es war ein Rätsel. Ich blickte mich nach Spice um, der kurz hinter mir ging. Ich konnte in seinem Gesicht sehen, woran er dachte. Carina. Und wie es hatte passieren können, dass sich ihre Lebenswege so auseinander bewegt hatten. Obwohl sie sich liebten, zusammen lebten und sich alles sagten ... Eine Stelle aus dem Brief, den ich vor zwei Monaten hinter dem Schrank in meinem Wohnheimzimmer gefunden hatte, fiel mir wieder ein: „Du wirst den Menschen, den du liebst, niemals sehen, niemals herausfinden, wer er wirklich ist ... Das ist unmöglich. Alles ist nur eine Projektion unseres Selbst in alles andere. Wir sind dazu verurteilt, ein Leben in Einsamkeit zu führen ..." Alles war miteinander verbunden, dachte ich. Alle Erlebnisse, die wir scheinbar zufällig machten, alles ergab vielleicht einen Sinn ... Aber welchen?

WildnislandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt