»Kommst du hier heute nochmal runter?«, streckte Ace seinen Kopf über den Rand des Krähennestes. Die junge Frau saß seit Stunden im Ausguck und langsam machte er sich Sorgen, ob mit ihr etwas nicht stimmte.
»Hm?«, wendete sie den Blick vom Himmel ab und dem Kommandanten zu. »Erst wenn der Kanarienvogel in seinem Käfig ist«, grummelte Seren.
»Warum so mies drauf? Du hast doch gewonnen und jeden auf dem Schiff beeindruckt. Sogar Vater schien überrascht«, schwang er sich über das Holz und hockte sich neben sie. Ace wollte sie gern verstehen, denn er an ihrer Stelle hätte nicht so reagiert.
»Mich nervt, dass es überhaupt so weit kommen musste«, meinte sie frustriert. Sie war von sich selbst enttäuscht, dass der Phönix Lunte gerochen hatte. Das war so nicht geplant.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte er vorsichtig. Es lag ihm fern, ihr zu nah zu treten, wenn ihre Grundstimmung bereits so tief im Keller war.
»Über meine Fähigkeiten?«, verzog sie missbilligend ihre Lippen.
»Falls du das Bedürfnis hast. Ich meinte nichts Spezielles. Einfach das, was dich beschäftigt«, erklärte er sanft.
»Das ist sicherlich lieb gemeint, aber ich will mich mit dem Thema nicht weiter befassen. Habe ich die letzten Stunden genug«, schielte sie matt zu dem Sommersprossigen.
»Hast du Hunger?«, versuchte er es mit einer anderen Frage.
»Ich würde es bevorzugen, heute keinen mehr außer dich zu sehen«, murmelte sie bedrückt.
»Hm. Bei dir würde Thatch es bestimmt zulassen, dass du die Küche plünderst«, kratzte er sich an der Wange.
»Dann gehe ich ihn jetzt fragen und klettere danach wieder hier rauf?«, schaute sie zweifelnd zum Firmament.
»Quatsch! Ich komme mit«, sprang er auf die Beine.Seren wartete vor der Kombüsentür, die auf den Gang führte und Ace holte gerade den Koch aus dem Saal, weil sie für den Tag wirklich darauf verzichten konnte, dem Kanarienvogel nochmal zu begegnen.
Das rechteckige Stück Holz wurde geöffnet und der Kommandant der Zweiten stand mit einem Tablett in den Händen grinsend vor ihr. »Thatch hatte schon etwas in der Richtung erwartet«, teilte er der jungen Frau mit.
»Was hat er denn für uns gemacht?«, legte sie ihren Kopf schräg.
»Sandwiches«, antwortete der Sommersprossige.
»Wäre es für dich in Ordnung, wenn wir die eben in meine Kajüte bringen und du mir dann mal die Bibliothek zeigst? Ich bräuchte wirklich was zur Ablenkung«, meinte sie mit einem flehenden Blick.
»Bücher? Echt jetzt?«, wollte er wenig begeistert wissen.
»Mich entspannt es, wenn ich lese«, zuckte sie die Schultern.
»Na gut. Dann lass uns mal los«, setzte er sich in Bewegung.
Nach dem Abstecher in den Kommandantenflur führte er die Blondine einige Gänge entlang.
»Da wären wir«, kam er in einer Sackgasse vor einer größeren Tür zum Stehen.
»Okay«, sagte sie langsam, schielte ihn verwundert an und drückte dann die Klinke herunter. Seren betrat den Raum und stoppte abrupt. Staunend schaute sie sich um, denn mit sowas hatte sie nicht gerechnet.
Deckenhohe, gut gefüllte Regale reihten sich aneinander und warmes Kerzenlicht erhellte das Zimmer, nachdem Ace geschnipst hatte. Mittig standen drei Tische mit Stühlen und hinten durch waren sogar einige Sessel, auf die der Kommandant zielstrebig zusteuerte.
Seren wendete sich nach rechts und begann, die Bücherrücken zu überfliegen. Informative Lektüren hatte sie in der letzten Zeit mehr als genug gehabt und suchte deshalb eher leichte Kost.
Beim fünften Regal wurde sie auf der Rückseite fündig. Mythen und Legenden. Ein ziemlich alt wirkender Schinken, der einiges wog.
»Ace, wir können los«, teilte sie dem Piraten mit, der mit verschränkten Armen im Sessel lümmelte und seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte.
Geräuschvoll gähnte er und streckte sich. »Prima«, sprang er auf die Beine und kam auf sie zu. »Soll ich das nehmen?«, deutete er auf den Wälzer.
»Ja. Gern«, reichte sie ihm das Buch.Nachdem beide sich die Sandwiches hatten schmecken lassen, griff Seren zu ihrer Lektüre und war der Überzeugung, dass Ace sich in seine Kajüte begeben würde.
Der Kommandant setzte sich auf dem Stuhl gerade hin. »Worum geht es da drin?«, reckte er den Hals, um einen Blick auf den Inhalt zu werfen.
»Das weiß ich erst, wenn ich es gelesen habe. Aber nach dem Titel darf man wohl Geschichten erwarten«, stellte sie mit einem verhaltenen Schulterzucken fest.
»Liest du mir eine vor?«, fragte er grinsend.
»Wie?«, starrte sie ihn verwirrt an. »Ich meine ... Keine Ahnung. Ich habe sowas noch nie gemacht.«
»Also ja«, sagte er einfach, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch. »Rutsch mal rüber«, machte er eine bezeichnende Kopfbewegung und kam auf sie zu.
»Schuhe aus«, erwiderte sie streng.
»Die Hose auch?«, streifte er sich die Boots ab und lächelte herausfordernd.
»Sag mal ...«, brauste Seren auf und er hob direkt beschwichtigend die Hände.
»Ganz ruhig. Das sollte echt nur ein Spaß sein«, sagte er eindringlich.
»Na gut«, atmete sie tief aus und rückte an den Außenrand.
Der Kommandant legte sich zu ihr aufs Bett, verschränkte die Arme im Nacken und blickte erwartungsvoll zu ihr auf.
»Wollen wir direkt die Erste nehmen?«, fragte sie, als sie die Seite aufgeschlagen und den Titel gelesen hatte.
»Wie heißt sie denn?«, wurde der Ausdruck in seinen Augen neugierig.
»Die drei Schwestern«, antwortete sie schlicht.
»Hm«, schwand das Funkeln in seinen Seelenspiegeln, weil er eher auf etwas Spannenderes gehofft hatte. »Na gut.«
Die junge Frau griff zu dem einen Kissen, lehnte es an die Wand und sich dagegen. Ihr eines Bein stellte sie angewinkelt auf und das andere ruhte auf der Matratze. Sie zog eine Haarnadel aus ihrem Stiefel und machte sich einen Dutt, damit ihr die lange Mähne nicht ins Gesicht hing.
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Dem Schicksal verpflichtet
FanfictionWie wird eine Legende zu einer Legende? Durch Personen, die sie weitererzählen oder aufschreiben. Vor hunderten von Jahren, so heißt es, soll die Welt geradezu von der Finsternis verschlungen worden sein. Eines Tages verschwand die Dunkelheit und da...