1) Eine Nacht

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Während die Band die letzten Töne ihres wenig prickelnden Auftrittes spielt, muss Lydia sich ein Gähnen verkneifen. Mit einem Blick auf die Uhr stellt sie fest, dass es bereits weit nach Mitternacht ist.

Die meisten Mitarbeitenden haben sich schon lange aus dem Staub gemacht. Nur noch der harte Kern ist übrig geblieben nach einem ausgiebigen Sommerfest und viel zu viel Wein. Lydia sitzt am Tisch mit den anderen drei Sekretärinnen, welche alle ähnlich dreinschauen, wie Lydia sich gerade fühlt; beschwipst, satt und unendlich müde.

Eigentlich will sie nur noch nach Hause, doch da sie zum Organisationskomitee gehört, wird sie bis zum Schluss bleiben müssen, um danach Tische, Stühle und die leeren Gefässe des Caterings zusammen zu räumen. Sie weiss nicht warum sie sich freiwillig dafür gemeldet hat, die Leitung zu übernehmen. Sollen doch die Vorgesetzten selber ein Essen organisieren! Beim Gedanken daran muss Lydia hämisch grinsen. Die wären völlig überfordert.

Erst als sie merkt, dass sie beobachtet wird, rückt sie sich auf ihrem Stuhl aufrecht hin und räuspert sich. Die Steiner... die hat ihr gerade noch gefehlt. Was will die jetzt noch? Es ist ein Sommerfest, kein normaler Arbeitstag! Doch zielstrebig kommt sie auf Lydia zu.

Ihre braunen Haare sind ausnahmsweise nicht streng nach hinten gebunden, sondern fallen ihr locker über die Schultern. Sie ist Anfang dreissig aber die vergangenen stressigen Monate lassen ihr hübsches Gesicht älter aussehen. Wie immer ist sie schick angezogen und trägt niemals etwas anderes als High Heels.

Als sie nur noch wenige Schritte entfernt ist, fällt Lydia auf, dass sie eine Flasche Wein und zwei Gläser in den Händen hält.

"Du - mitkommen", ist alles, was die Anwältin ihr entgegen raunzt. Sie wirft Lydia einen eindringlichen Blick zu, der niemand anderem gelten kann. Mit einem Seufzen erhebt Lydia sich vom Stuhl und folgt ihrer Vorgesetzten.

Wortlos steuert Cecile Steiner aus dem Saal und auf das Treppenhaus zu. Lydia hat keine Ahnung was nun kommt. Wahrscheinlich hat die Steiner mal wieder einen Sonderauftrag für sie, wie so oft in letzter Zeit.

Als sie jedoch die Treppenstufen erklimmen, die Tür zur Dachterrasse durchschreiten und wenige Sekunden später unter einem klaren Sternenhimmel stehen, ist Lydia mehr als verwirrt. Sie haben einen perfekten Tag im Juni für das Sommerfest erwischt aber die frische Abendluft kitzelt ihre Arme. Sie bereut es kurzzeitig sich nicht noch die Strickjacke vom Stuhl geschnappt zu haben. Allzu lange wird das ja hoffentlich nicht dauern. Was auch immer das hier gerade ist.

Noch immer traut sie sich nicht zu fragen, was genau sie auf dem Dach der Anwaltskanzlei machen, als sie zuschaut, wie die Steiner einen Korkenzieher aus der Tasche ihres Blazers zaubert und Lydia ein Glas in die Hand drückt. Nachdem sie spielend leicht die Flasche öffnet, füllt sie zuerst ihr eigenes Glas mit Wein und nimmt einen offensichtlich dringend benötigten Schluck bevor sie das Glas von Lydia einschenkt.

"Es tut mir leid", sagt sie schlussendlich. Lydia kann nicht folgen. "Ich war nicht immer fair zu dir."

Lydia will losprusten, doch der Blick, der die Anwältin ihr zuwirft, lässt sie schweigen.

"Nicht immer fair" ist in etwa die grösste Untertreibung des Jahrhunderts. Cecile Steiner scheint den ganzen Tag nichts Besseres zu tun zu haben, als Lydia mit spöttischen Kommentaren zu schikanieren, sie ständig zu korrigieren und ihr bei jeder Gelegenheit einen ihrer Sonderaufträge aufzubrummen. Sie ist keine zwei Jahre älter als Lydia, fühlt sich ihr aber durch die unterschiedlichen Arbeitsanstellungen um Längen überlegen.

Lydia ist "nur" die Sekretärin. Damit hat sie selber kein Problem. Das Problem ist Ceciles bodenlose Frechheit.

Doch genau jetzt, in dieser Minute, scheint die ganze Überlegenheit plötzlich verschwunden zu sein. Ihre sonst kühlen braunen Augen wirken warm,  die Wangen leicht gerötet. Dies kann Lydia trotz der Dunkelheit erkennen.

Die AnwältinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt