Vor ziemlich genau einem Jahr...
Den Blick auf die Strasse gerichtet, drückt sie am Radio rum, bis endlich einigermassen passable Musik erklingt. Sie wollte schon längst ihr Mobiltelefon verbinden, so dass sie auch in ihrem neuen Audi eigene Playlists hören kann, doch sie kommt zu nichts.
Nicht mal den Einkauf hat sie gestern Abend geschafft, weshalb sie heute Morgen in der Küche vor einer leeren Schachtel Kaffeekapseln stand und somit zehn Minuten früher losfahren musste, um noch schnell beim Laden um die Ecke eine Tasse to go zu holen.
Nun steht sie im Stau. Wieder einmal. Immerhin kann sie so den Kaffee trinken, ohne Angst zu haben, dass sie die heisse Brühe über ihre frische Bluse schüttet.
Es steht ein langer Arbeitstag bevor und um es noch zu toppen, startet er mit dem sechsten Vorstellungsgespräch innert zwei Wochen.
Sie hat es so was von satt. Und absolut keinen Kopf dafür.
Deswegen braucht sie ja jemanden.
Aber nicht um jeden Preis. Die letzten Gespräche waren die reinste Katastrophe. Klar hat sie hohe Ansprüche. Warum sollte sie die nicht haben. Aber wenn die heutige Person nicht ansatzweise akzeptabel daherkommt, wird sie die Suche an den Nagel hängen und ihre Schreibarbeit weiterhin selbst machen.
Als Cecile Steiner den Parkplatz der Kanzlei erreicht und aus dem Auto steigt, blickt sie zum Gebäude empor. Trotz all der langen und strengen Tage kommt sie gerne hierher. Sie liebt ihren Job. Ganz einfach.
Sie schreitet über den Platz und geht im Kopf schon mal die ersten Punkte durch, die sie gleich zu erledigen hat, als ihr Blick an einer Person hängen bleibt, die bei einem Auto steht und in ihr Mobiltelefon vertieft ist.
Die Frau fällt Cecile auf, weil sie gut gekleidet ist. Herbstmantel, Ankle Boots und eine Tasche, die sie selbst auch tragen würde.
Gut gekleidet und... hübsch. Vielleicht. Sie kann ihr Gesicht nicht wirklich erkennen.
Ceciles Gedanken wandern kurzzeitig ab und sie fragt sich, wann sie eigentlich das letzte Mal ein Date hatte oder auch nur jemanden ansatzweise interessant fand. Sie kann sich nicht erinnern. Sie hat keine Zeit dafür.
Ein weiterer Grund, warum sie sich endlich überwinden muss, jemanden für die administrativen Arbeiten einzustellen.
Zügigen Schrittes geht sie weiter und trinkt den Kaffee fertig. Als die Frau aufschaut, um auf die andere Strassenseite zu blicken, offenbart sich ihr Gesicht.
Ja... wirklich sehr hübsch.
***
Kurze Zeit später kommt Cecile oben in der Kanzlei an und wird sogleich von Scarlett Jansen über einen Anruf eines sehr launischen Mandanten informiert. Cecile schliesst für einen kurzen Moment die Augen.
So sehr sie ihren Beruf auch liebt – es gibt Dinge, die sie mehr Nerven brauchen, als es ihr lieb ist. So zum Beispiel Frau Jansen.
«Wie seid ihr verblieben?»
Scarlett schaut von ihrem Bildschirm auf.
"Dass du ihn zurückrufst, sobald du da bist.» Cecile schüttelt den Kopf.
«Mach du das und sag ihm, dass ich erst am Nachmittag zur Verfügung stehe. Ist das Besprechungszimmer frei?»
Scarletts «Ja» ist nach ihrem Geschmack viel zu schnippisch, doch sie hat schlichtweg keine Zeit, sich darüber aufzuregen.
«Eine Frau Weiss kommt gleich für das Vorstellungsgespräch. Schick sie rein, sobald sie kommt. Ich werde auch gleich da sein.»
Als sie davon schreiten will, hört sie wie Scarlett etwas murmelt, das wie «Viel Glück damit...» klingt.

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Die Anwältin
Roman d'amourEine Anwältin und ihre Sekretärin können sich gegenseitig nicht leiden bis am Abend eines Sommerfests und nach etwas zu viel Wein die Wahrheit rauskommt. Wie werden die beiden mit den aufkeimenden Gefühlen umgehen?