4) Heisskalt

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Der Postrundgang durch die ganze Kanzlei dauert wieder einmal eine halbe Ewigkeit, aber Lydia mag die Aufgabe eigentlich gerne. Da sie die meiste Zeit sitzend verbringt, ist ein wenig Bewegung frühmorgens willkommen. Es hält sie zwar von ihren anderen Aufgaben ab, aber es fühlt sich nicht ganz so sinnlos an, wie den Trester der Kaffeemaschine zu leeren. Die Post ist wichtig.

Der Kaffee hingegen auch...

Die einen Leute schlurfen jeweils wie Zombies durch die Glastür und tauen erst auf, wenn sie die erste Tasse intus haben.

Andere – so zum Beispiel gewisse dunkelhaarige Anwältinnen – könnten glatt auf einem Catwalk unterwegs sein, egal wie früh es auf der Uhr zeigt.

Als Lydia an die Tür der besagten Anwältin klopft, bereitet sie sich mental auf die Begegnung vor.

Das Sommerfest ist nun mehr als zwei Wochen her und sie schaffen es einigermassen normal miteinander umzugehen, mit der Betonung auf einigermassen.

Während offiziellen Besprechungen funktioniert es am besten. Dann ist alles so formal. Cecile ist gut im Delegieren und Lydia in der Umsetzung.

Cecile meidet öfters den Augenkontakt und das ist auch gut so. Wenn sie sich nämlich gezwungenermassen in die Augen sehen, ist da immer noch etwas anderes dabei, das Lydia nicht einordnen kann.

Es ist unausgesprochen. Wahrscheinlich am besten, wenn ignoriert.

Als sie in das Büro eintritt, ist Cecile gerade am Telefon. Sie schaut kurz auf und macht eine Handbewegung, die suggeriert, dass Lydia warten soll bis sie mit telefonieren fertig ist.

Lydia legt die Post auf Ceciles Tisch und fragt sich, was sie mit ihren nun leeren Händen machen soll. Sie schaut an sich herunter, um sicher zu sein, dass ihre Bluse nicht zerknittert ist.

Ein Ding der Gewohnheit.

Wahrscheinlich.

Cecile legt auf und tippt etwas in den Computer.

«Wann ist morgen nochmal der Termin auf dem Gericht?», fragt sie, während ihre Finger flink über die Tastatur hüpfen. Sie beherrscht Multitasking ebenso gut wie Lydia und Scarlett auf dem Sekretariat, was man von den meisten ihrer männlichen Anwaltskollegen nicht gerade behaupten kann.

Lydia ist froh, dass sie hauptsächlich für Cecile arbeitet.

Das ist sie wirklich.

Und manchmal ist es auch kaum auszuhalten.

«Um 14.00 Uhr»

«Ok. Entweder du oder Scarlett müssen mich begleiten und Protokoll führen. Wer gerade Zeit hat.»

«Ich weiss. Ich werde da sein», bestätigt Lydia und möchte sich eigentlich wieder auf den Weg machen.

«Hast du die Entwürfe geschrieben, die wir gestern besprochen haben?»

Lydia macht eine Kopfbewegung, um auf einen Briefumschlag auf Ceciles Tisch zu deuten.

«Die liegen bereits da.»

Cecile nickt unbeeindruckt und öffnet den Umschlag, ohne die Augen vom Bildschirm zu lösen.

Dann lässt sie ihn wieder fallen und streckt Lydia ein Blatt Papier entgegen.

"Dieses Schreiben muss heute raus aber unbedingt zuerst noch gegenlesen, ja? Ich war nicht sehr konzentriert, als ich es verfasst habe."

"Mach ich", bestätigt Lydia und nimmt den Auftrag entgegen. Als sie schon fast bei der Tür ist, hört sie ihren Namen.

Die AnwältinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt