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LILLIAN

Ich habe eine blöde Entscheidung getroffen.
Wie kann ich allen Ernstes in Erwägung ziehen, wirklich den Gefallen einlösen zu wollen? Vielleicht, weil ich verzweifelt bin. So verzweifelt, dass ich alles in Kauf nehmen würde, sogar, mich in die Höhle der Löwen zu wagen - ins Nest der Schlangen. Mir läuft ein antarktischer Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Meine Finger tätscheln nervös die Kette um meinen Hals, während die Durchsage in der U-Bahn läuft. Es ist nicht besonders voll, was kein Wunder ist, zu dieser späten Stunde. Ich habe sechzig Minuten, bis ich wieder zuhause sein muss. Ehrlich gesagt, war die ganze Aktion recht spontan und ich bereue es bereits jetzt, als die Station durchgerufen wird, an der ich aussteigen muss.
Mein Herz rast verdächtig schnell und mit zitternden Händen, schaffe ich es gerade so den Knopf zum Leuchten zu bringen. Quietschend hält die U-Bahn an und die Türen öffnen sich mir mit einem Zischen. Ich drängle mich an den Menschen am Gleis vorbei, eile die Treppen hinauf und befinde mich mitten im Herzen von New York City. Manhattans hohe Wolkenkratzer ragen wie Ungetüme in den dämmernden Himmel und jagen mir die nächste Gänsehaut über die Haut, weil ich weiß, dass ich es nun durchziehen muss. Ich folge der Adresse, die ich zuvor auf meinem Telefon im Internet gesucht habe. Es sind nur wenige Meter bis dorthin und mit jedem, dem ich mich dem Ziel nähere, beginne ich nervöser zu werden.
Die Häuser in Little Italy sind nicht höher als ein paar Stockwerke und reihen sich Hauswand an Hauswand, meistens aus Backsteinen. Italienische Flaggen hängen zwischen den Häusern, Bäckereien und Restaurants finden sich in den meisten Erdgeschossen der Häuser wieder. Es ist sauber hier, sauberer als im Großteil der Stadt. Es gibt keine Mülltonnen, dennoch liegt kein Taschentuch auf der Straße. Überrascht schaue ich mich um. In den Schaufenstern der Geschäfte gibt es die feinsten Spezialitäten und süßesten Speisen. Es wirkt alles so... familiär.

Ich wandere durch die Straße auf der Suche nach dem Restaurant mit den roten Wimpeln, als sich ein bulliger südländischer Mann vor mir aufbäumt und mich mit eiskaltem Blick von der Sohle bis zum Haar mustert. Allein seine Präsenz jagt mir einen Schrecken ein. Eine lange Narbe zieht sich diagonal über seine gebräunte Haut, kratzt sein Auge, das blutrot ist. Ich schrecke sofort zwei Schritte zurück.
»Wo wollen wir zu so später Zeit hin? Hast du dich etwa verlaufen kleine?«, erkundigt er sich neugierig und bringt seine weißen Zähne beim Grinsen hervor. Um seinen Hals hängen mehrere Goldketten und die passenden Ringe an seinen Fingern. Er trägt ein weißes Unterhemd und eine Kunstlederjacke, damit sieht er aus, wie aus den alten Gangster Filmen.
»I-ich«, stotterte ich mit klopfendem Herzen und berühre die Kette um meinen Hals. Der Mitte fünfzigjährige lässt seine Augen hinab wandern. Sobald er das gute Stück um meinen Hals entdeckt, packt er mich grob am Kragen und kommt mir gefährlich nach. Ich stoße schnappend die Luft aus und versuche ihn kläglich von mir zu drücken. Ist hier niemand, der mir helfen kann? Die Straße ist wie ausgestorben und doch weiß ich, dass mindestens fünf und beobachten müssen. Hinter der Gardine einer Bäckerei lugt eine Frau hervor. Wieso hilft mir keiner?
»Lass mich los!«, fordere ich und schlage ihm gegen die Brust. Knurrend packt er den Anhänger in meinen Fingern und hält ihn mir unter die Nase. »Wo hast du den geklaut?«, blafft er mich an und reißt an meinem Kragen. Langsam schmerzt sein Griff und seine ruppige Art. »Nirgends!«, verteidige ich mich und stemme mich vehement gegen den dickbäuchigen Italiener, der nach Bier und Rasierwasser riecht. »Ach ja? Ich glaube dir kein Wort kleine Diebin. Weißt du, was wir mit Leuten wie dir machen? Was ich mit Langfingern anstelle? Ich schneide ihnen jeden einzelnen Finger ab, selbst den Daumen. Ganz langsam und-«
»Ich habe ihn nicht gestohlen! Der Anhänger - die Kette - ich habe sie von einem Benelli!«
Mein Kopf schnellt zur Seite als seine flache Hand mich trifft. Erschrocken halte ich mir meine Wange, in der sich eine glühende Hitze ausbreitet. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Stein, er hat mich geschlagen...
»Kleine Diebin!«, beschuldigt er mich weiter und zerrt mich enger an sich. Ich rieche bereits seinen alkoholgeschwängerten Atem. Igitt.
»Bitte!«, flehe ich verzweifelt. Genau jetzt bereue ich am meisten, dass ich wirklich dachte, die Sache wäre einfach. Die Mafia kontrolliert das Viertel und sie werden mich nicht in ihre Nähe lassen.
»Ich lüge nicht«, behaupte ich mutig und stemme mich mit aller Kraft gegen seine Brust, »ein großer, dunkelhaariger Mann hat Sie mir gegeben. Ich habe ihm geholfen und er sagte, dass ich herkommen soll, wenn ich einen Gefallen von ihm einlösen will. Ich bin nur hier, um dies zu tun!«
Was soll ich noch sagen, damit er mir glaubt? Seine Lippen sind verärgert verzerrt und die Augen töten mich insgeheim bereits mit Blicken. »Ach ja? Und sein Name wäre?«
»Das weiß ich nicht, aber ich soll zu einem Restaurant mit roten Wimpeln und-«
Er lässt mich nicht mehr ausreden, sondern packt mich grob am Oberarm und schleift mich hinter sich gewaltsam über die Straße. »Das reicht jetzt mit deinem dummen Geschwätz! Ich bringe dich zu Santino, soll der sich doch um dich dumme Diebin kümmern!«, keift er. Panisch schüttle ich meinen Kopf und versuche mich loszureißen. »Nein!«, stoße ich wild geworden hervor und winde mich, doch der stämmige Mann ist zu schmächtig und kräftig. Ich habe gegen einen wie ihn keine Chance. Egal wie sehr ich mich winde, es hilft alles nichts. Er schleift mich wie ein Tier über den Bordstein, tiefer ins Viertel, dort wo mir niemand zur Hilfe kommen wird, nicht mal die Polizei. Ich bin mir sicher, dass die Mafia sie fest im Griff hat, oder sie nur aus Angst dieses Viertel meide. Der dicke Italiener mit Schmalzlocke und Unterhemd brummt konstant etwas Italienisches, das ich nicht verstehe. Er reißt die Tür zu einem Lokal auf, an dessen Fassade ich nur kurz einen Blick auf rote Wimpel erhasche, die im kalten Wind wehen.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt