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SANTINO

»Du siehst scheiße aus.«
Kyle betrachtet mich von der Sohle bis zum Haar und schüttelt den Kopf. »Danke«, murmle ich und schließe meine Augen. Die letzten Nächte habe ich kein Auge zugetan. Zu groß war die Sorge um Lillian. Ich saß an dem Tag noch bis zum Morgengrauen auf den Plastikstühlen gegenüber ihres Zimmers und starrte in ihr Zimmer. So lang bis sie mich rausschmissen und sagten, ich solle mich ausruhen und sie würden mich anrufen, sobald etwas ist. Da ich ihnen nicht traue, schickte ich zwei meiner Männer, die ihre Tür Tag und Nacht bewachen und mich bei jeder kleinen Veränderung und jeder Person, die das Zimmer betritt, kontaktieren. So kann ich wenigstens beruhig im Bett liegen, auch wenn ich kein Auge zu tue. »Das ist nicht gesund, ich hoffe du weißt das«, ermahnt mich mein bester Freund und schaut mich prüfend an. »Du weißt nicht, wie es ist, wenn jemand ... jemanden den man mag um sein Leben kämpft«, raune ich bissig und leere meine Tasse Kaffee in einem Zug. Kyle schweigt.
»Du musst deine Laune nicht an mir auslassen, Santo. Die kleine Amerikanerin wird schon wieder«, versichert er mir zuversichtlich und legt seinen Kopf schief. Da spricht ja der Optimist persönlich. »Hast du gut reden...«
»Das ist nicht nur gut reden. Willst du weiter hier in deinem Selbstmitleid versinken oder endlich mal deinen verfickten Arsch bewegen und herausfinden, wer ihre verschissenen Eltern sind, damit du ihr endlich mal Ergebnisse präsentieren kannst, wenn sie aufwacht?!«, keift er mich an und schlägt mit der Faust so fest auf den Tisch, dass das Porzellan klappert. Das macht mich nur noch wütender auf ihn, auch wenn er recht hat. Fuck, das habe ich gebraucht. Tief einatmend lege ich den Kopf in den Nacken und schließe meine Augen ein paar Sekunden. »Komm runter du verschissener Schotte, du musst nicht immer so scheiß unfreundlich sein«, brumme ich und bringe meinen besten Freund zum Lachen. »Sagst du.«
»Touché.«
»Also?«, hebt er sein Glas und leert es, »James und Sawyer konnten die Adresse von Petrov Ivanowich ausfindig machen, dem Typen, der in den Unterlagen steht. Er wohnt noch in London, wir sollten ihm einen Besuch abstatten«, schlägt er vor. Eigentlich gar keine so blöde Idee von ihm. Vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken und ich muss nicht die ganze Zeit über an Lillians blassen Körper denken, der so regungslos im Krankenhausbett liegt. Es zehrt an meinen Kräften und lässt mich meine Arbeit vernachlässigen. Sie würde wollen, dass wir weitermachen.

~

Es regnet wie aus Strömen als ich im dunklen Mietwagen auf dem Beifahrersitz sitze und die Hände in meinen Taschen vergraben habe. Kyle sitzt hinter dem Steuer und beobachtet die andere Straßenseite genau. Die dicken Tropfen, die die Scheibe treffen, lenken mich von meinen Gedanken ab. In meinem Kopf kreist alles um Lillian. Ich berühre das Telefon in meiner Jackentasche, in der Hoffnung, dass bald jemand anruft und mir sagt, dass sie aufgewacht sei. Es ist unwahrscheinlich. Der Doktor erzählte, dass sie nicht wissen, wann sie wach wird. Es liegt an ihr und ihrem Zustand. Wenn jemand einen derartigen Blutverlust erlitten hat, dauert es lange, bis der Körper sich erholt hat. Sie bekommt täglich mehrere Reserven, aber ist immer noch fahl wie ein Stück Kreide. Es macht mir Angst, sie so dort liegen zu sehen. Sie verdient das nicht. Niemand tut das. Ich hoffe, dass sie bald aufwacht.

»Sieht nicht so aus, als ob jemand zuhause wäre«, merkt Kyle an und kneift die Augen zusammen, als könne er dann hinter die Vorhänge der Fenster schauen. Die Wohngegend, in der wir sind, könnte besser sein. Die Häuser sind alt und einige vernachlässigt. Hinter Petrovs Fenstern hängen jedoch feine Vorhänge, und ich glaube ein Stück Mustertapete gesehen zu haben. Nachdem Kyle mir einige Infos über ihn zugespielt hat, war ich mir sofort sicher, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Er ist zu unauffällig. Keine Schulden, keine Kredite, keine offenen Verfahren. Das Gefühl in mir ist sich sicher, dass etwas bei ihm nicht stimmt. Er ist als Betreuer in Lillians Akte gelistet gewesen, was bedeutet, dass er sie nicht nur mit nach London, sondern auch in die Adoptionsagentur gebracht haben muss. Er arbeitet nicht für den Staat, aber auch nicht für die Agentur. Für wen dann?
»Er ist da«, versichere ich meinem besten Freund. Im Haus ist es dunkel, aber da ist er hundertprozentig. Ich fühle es.
Zügig öffne ich die Tür und trete hinaus in den strömenden Regen. Ich knalle sie zu und Kyle tut es mir gleich. Zwei Autos fahren an uns vorbei, ehe wir über die Straße rennen können. Pitschnass eile ich die Stufen zum Reihenhaus hinauf und klingle. Gott ist das ein Mistwetter. Es ist kalt und nass, für Mitte November in London nichts Ungewöhnliches, aber für mich schrecklich. Nicht mal an das Wetter in New York konnte ich mich gewöhnen. Das Verlangen nach Sonne liegt mir im Blut.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt