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SANTINO

Juri Zlatrov ist wie vom Erdboden verschluckt.
Nichts deutet darauf hin, wo er oder seine Leute sich aufhalten könnten. Er ist ein Synonym in den Straßen Londons. Wohin ich auch gehe, niemand will ihn kennen, niemand will etwas mit ihm zutun haben. Sie leugnen das es ihn gibt, und ich hoffe inständig für Petrov Ivanowich, dass er uns nicht angelogen hat, und diesen Namen erfand. Das wird böse für ihn enden, wenn er das getan hat. Enkelin hin oder her, dann wird er sterben, egal wer zuschaut.
Wir sind stundenlang durch die Londoner Bezirke gefahren und haben nach ihm Ausschau gehalten. Angeblich ist eine Wohnung in Camden auf ihn zugelassen, aber das Gebäude steht leer. Unter meinen Schuhen knirscht der Bauschutt der letzten fünfzig Jahre, der auf den alten Dielen liegt. Der Mond wirft streifenartige Kegel in den staubigen Raum, in dessen Licht die Partikel sichtbar werden. Die Laterne vor dem Haus ist kaputt. Kyle und ich haben uns ein wenig in dem dreistöckigen Objekt umgesehen, doch konnten nichts finden, dass auf eine Person hinweist, die hier gelebt haben soll. Die Scheiben im obersten Stockwerk sind kaputt und die kalte Novemberluft weht hindurch, trägt den Geruch des Regens in die modrigen Räume. Unser Kommen ist sinnlos gewesen. In dieser Ruine werden wir nichts finden. Der lange Weg umsonst, alles umsonst. Meine Zeit wurde verschwendet. Zeit, in der ich im Krankenhaus hätte sein können. Ich habe Schuldgefühle, die einfach nicht verschwinden wollen. Ich kann mich nicht davon abbringen, mir diese zu geben. Hoffentlich wacht Sie bald auf.

»Das war eine Farce.« Kyle tritt gegen ein totes Stück Holz, das aus dem Boden gebrochen ist. Er zieht eine frustrierte Miene und zückt eine Schachtel Zigaretten, von denen er mir eine anbietet. Stumm nehme ich mir eine aus dem Schächtelchen und zücke mein Feuerzeug, mit dem ich sie zum Glühen bringe. Das Nikotin, das meine Lungen flutet, beruhigt mein wild klopfendes Herz etwas. Zumindest für den Moment.
»Denkst du, Petrov hat gelogen?«
Ratlos zucke ich mit meinen Schultern. Ein weiterer Zug an der Zigarette, ehe ich antworte. »Entweder ist dieser Juri abgetaucht, oder er ist ein Synonym. Ein Geist, dessen Name nur benutzt wird, wenn er gewisse Dinge tun soll«, gebe ich meine Gedanken rau preis und räuspere mich, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Kyle legt den Kopf in den Nacken und lässt den Qualm aus seinem Mund in die Nacht entfleuchen. »Ich hätte nicht gedacht, dass die kleine dir solches Kopfzerbrechen beschert. Ich dachte, das wäre eine einfache Sache, ihre Eltern zu finden«, gesteht er und betrachtet mich von der Seite. Mein bester Freund hat nicht unrecht, es war auch mein erster Gedanke. Lillians Familiengeschichte ist weitaus dunkler, als ich damals annahm. Aber es reizt mich auch, herausfinden zu wollen, wer ihre Eltern sind, und wieso alles so kam wie es kam. So viele Fragen schwirren in meinem Kopf herum, das er fast beginnt zu rauchen. Nach einer Weile trete ich die Kippe auf dem feuchten Schutt aus und sehe zu, wie die Glut erstirbt. »Lass uns zurück ins Hotel, ich will mit James und Sawyer sprechen«, beschließe ich.

~

Die beiden Männer, die unangefochten an der Spitze der Londoner Unterwelt sitzen, sind besser vernetzt als Interpol. Sie kennen jeden noch so winzigen Winkel der Stadt, haben Verbindungen, die bis ins tiefste Asien reichen. Bisher wollte ich die beiden nicht mit meinen – besser gesagt Lillians – Problemen belagern. Sie haben mit dem Hotel und ihren üblichen Geschäften ohnehin alle Hände voll zu tun. Nun sind sie die letzten, die mir helfen können.
Im McLeod Hotel ist es zu dieser Uhrzeit recht ruhig, da die meisten Gäste wohl im Restaurant des Hauses, bei Abendessen sitzen müssen. Wir können also ungehindert mit dem Fahrstuhl hinab ins Kingsley fahren, in dem noch nicht viel los es. Die meisten kommen nach elf, und es ist gerade mal acht Uhr. Kyle und ich folgen dem Bordeauxroten Flur tiefer in die Kellerräume des Hotels. Die Musik dröhnt bereits in den Saal, als wir am Ende des Flures ankommen. Einige Mitarbeiter richten die Tische her und kümmern sich um die Bar. Bis jetzt scheinen noch keine Gäste anwesend zu sein. An der silbernen guten fünf Meter hohen Poledance Stange des Kingsley räkelt sich eine brünette Schönheit mit langem Haar und knappen Outfit. Sie schwingt ihre Hüften im Takt der Musik und tanzt um die Stange als hänge ihr Leben davon ab. Auf einem der knallroten Samtsofas sitzt James mit dem Blick auf die Bühne. Zwischen seinen Fingern qualmt ein Zigarillo und auf der Armlehne des Zweisitzers hat sich Sawyer mit verschränkten Armen niedergelassen. Die beiden betrachten die dunkelhaarige, als sei sie ihre nächste Beute.

Räuspernd komme ich neben dem Sofa zu stehen und ernte einen nicht glücklichen Blick von James, der ihre Tanzeinlage wohl ganz in Ordnung fand. »Störe ich?«, hake ich nach, obwohl ich mir die Frage selbst beantworten könnte. Natürlich tue ich das. »Du bist es. Nein, setz dich«, fordert der Besitzer des McLeods mich auf, doch ich bewege mich keinen Millimeter. »Ich fürchte ich brauche eure Hilfe«, verkünde ich und erhasche somit auch Sawyers Aufmerksamkeit. Die kleine auf der Bühne beachtet somit keiner mehr. »Bei was?«, will der Muskelprotz auf der Armlehne wissen. Sawyer ist schon immer der Unfreundlichere der beiden gewesen, was an seinem Job liegen mag. Als ehemaliger Boxer und nun Sicherheitschef kann man nicht besonders freundlich sein. In diesem Job ist kein Raum dafür. »Bei seiner Begleitung«, stellt James fest und lässt seinen Zigarillo in sein Schnapsglas fallen. Zischend erlischt es und qualmt. Der Anzugträger erhebt sich aus seiner lässigen Position und klatscht einmal in die Hände, was die Dunkelhaarige innehalten lässt. »Das war ein guter Anfang Jane, wir führen unser Vorstellungsgespräch zu einem anderen Zeitpunkt weiter«, beschließt er mit fester Stimme über die Musik hinweg. Die junge Frau nickt mit gesenktem Kopf, aber ich spüre ihre neugierigen Blicke auf meinem Rücken, als ich den beiden Männern folge. »Gönn dir so lang einen Drink«, bitte ich Kyle. Das schaffe ich auch allein. Ohne zu protestieren, macht er sich auf den Weg in Richtung Bar und wir drei fahren mit dem Mitarbeiteraufzug ganz nach oben in die Chefetage.

Ich war eine Handvoll Male in James Büro, doch es fasziniert mich immer wieder aufs Gleiche. Teure Kunstwerke und Skulpturen schmücken den Flur, die Wände schwarz und der Boden ebenso farbiger Marmor. Er schwingt die Türen auf und läuft mit großen Schritten auf seinen mächtigen Boss-Schreibtisch zu, der vor der verglasten Fensterfront steht und untermauert, welche Macht er besitzt. Niemand legt sich mit ihm an, nachdem er sein Büro gesehen hat. Ich laufe am Kamin vorbei, in dem ein Holzfeuer vor sich hin knistert. Sawyer lehnt seinen Arm auf das hohe Ende von James Schreibtischstuhl und die beiden schauen mich fordernd an. »Ihr habt doch gute Kontakte, oder? Ich bin auf der Suche nach jemanden«, erkläre ich und reiche den beiden den Zettel, auf den ich beide Namen notiert habe. James mustert das geschriebene prüfend. »Geht es um deine kleine?« Ich spare mir einen Kommentar und nicke. »Verstehe«, murmelt James und legt ihn beiseite. Er drückt eine beliebige Taste seines Computers und schon erhellt der Bildschirm sein ernstes Gesicht. »Und wen genau von den beiden?«
»Juri Zlatrov. Wir haben uns ein wenig in der Stadt umgehört, aber niemand will ihn kennen oder gesehen haben.«
»Interessant.«
James tippt konzentriert auf der schwarzen Tastatur, die zentral vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Sawyer verfolgt jeden seiner Schritte. »Und was will diese Lillian von denen?«, fragt er misstrauisch und wirft mir einen kurzen Blick zu. »Petrov war in den Unterlagen, die es von ihr im Krankenhaus gibt, als Verantwortlicher gelistet, als sie nach London verlegt wurde. Wir haben ihm einen Besuch abgestattet und er erzählte, dass er den Auftrag dafür von diesem Juri bekommen hat.« Und irgendwas sagt mir, dass diese Aktion fett nach etwas illegalem stinkt. James Blick bestätigt dies nur. Mit klopfendem Herzen schaue ich ihn an und warte auf das, was er mir zu sagen hat. Er hat etwas herausgefunden, und das schneller als ich in den letzten Wochen. Der Hotelboss wirft seinem besten Freund und Geschäftspartner einen für mich undeutbaren Blick zu, bevor er sich an mich wendet.
»Was zum Teufel hat deine Kleine mit den verfickten Russen am Hut?«

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt