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LILLIAN

Durch den Wind rutsche ich auf dem Rücksitz des SUVs hin und her und streiche mir abermals meine zerwühlten Haare glatt. Hoffentlich hat Kyle, der mich wieder fährt, nicht mitbekommen, was los ist. Santino hat sich, ohne eine große Rede zu schwingen, von mir verabschiedet und meine Telefonnummer gefordert, für den Fall, dass sich etwas Neues ergibt. Das mit dem Londoner Krankenhaus bringt mich jedoch endgültig durcheinander. Wenn ich doch in Leeds geboren wurde und auch die Agentur dort ist, wieso brachte man mich dann nach London und anschließend zurück? Es gibt nur eine plausible Erklärung dafür - ich wurde gar nicht in Leeds geboren, so wie dies auf meiner Geburtsurkunde vermerkt wurde. Aber wieso sollten die mich deshalb anlügen? Das ergibt alles noch weniger Sinn als zuvor. Santino hat recht, etwas stinkt an der Sache gewaltig, und das macht mich wahnsinnig traurig. Wollte mich niemand haben als Baby? Wurde ich deshalb von Krankenhaus zu Krankenhaus gereicht, bis die Jones' mich adoptierten?
Ausatmend sinke ich tief in den Ledersitz und stütze meinen Ellenbogen am Fenster ab, und das Gesicht folglich in der Hand. »Alles in Ordnung? Das hat sich nicht begeistert angehört«, mischt Kyle sich vom Vordersitz ein und ich schüttle meinen Kopf, auch wenn er das nicht sehen kann. »Mhm nein«, gebe ich zu.
»Wohin soll ich Sie bringen?«
»Weiß nicht ... nachhause? Einfach nachhause«, wispere ich erschöpft und starre aus den getönten Scheiben auf die Umgebung. Wir fahren quer durch Manhattan und ich wundere mich nicht darüber, dass Kyle den Weg zu meiner Wohnung kennt. Er gehört immerhin zu den Benellis, ich bin sicher Santino kennt bereits meine Sozialversicherungsnummer. »Können Sie vielleicht noch an der nächsten Ecke vor dem Supermarkt anhalten? Ich brauche noch ein paar Kleinigkeiten«, bitte ich den freundlichen Schotten. Er nickt und setzt sofort den Blinker.

Nach etlichen Diskussionen wartet Kyle im Wagen. Ich konnte ihn gerade davon abhalten mit mir in den Supermarkt zu marschieren. Er meinte, es wäre notwendig. Aber was soll mir schon passieren? Eine Schachtel Eier fällt mir auf den Kopf oder ich rutsche in Gang fünf auf einer Bananenschale aus? Die Leute beachten mich ja nicht einmal als ich den Markt betrete und mir einen kleinen Tragekorb nehme. Zügig laufe ich die Reihen ab, lege Milch, Eier, etwas Wurst und Käse in den Korb. Dazu Schokolade und eine Packung Tiefkühlpizza - mein Abendessen für heute. Ab und an kann es auch das tun. Schließlich habe ich keinen Geldbaum in meinem Apartment und genieße nicht jeden Tag die fantastische echte italienische Küche der Pizzeria in Litte Italy. Auf dem Weg zur Kasse passiere ich noch die kleine Apothekenecke des Ladens und schnappe mir eine Packung Pillen. Am Ende hängt Santino mit sonst noch ein Kind an. Ohne Verhütung mit ihm zu schlafen war dumm und ich schwöre mir, dass es nie wieder vorkommen wird. Ein kleines Kind kann ich mir beim derzeitigen Immobilienmarkt nicht leisten und meine Wohnung wäre viel zu klein, die Miete zu hoch und zack würde ich obdachlos sein. Mal ganz davon zu schweigen, dass Santino Benelli der Vater wäre. Er wäre bestimmt ein guter, aber da könnte ich mir auch gleich ein Rotes Kreuz auf die Stirn sprühen und mit offenen Armen zu den Vallians rennen. Eine noch größere Zielscheibe gäbe es wohl ja dann nicht.

Fünfzehn Minuten dauert mein Einkauf und Kyle wartet schon brav im Auto auf mich. Er beäugt die zwei Tüten knapp, startet den Wagen und fährt weiter, ohne noch einen Ton zu sagen. Bis zu meinem Apartment ist es nicht mehr weit und der Verkehr zum Glück nicht ansatzweise so schlecht wie sonst.
»Danke für die Fahrt Kyle«, verabschiede ich mich lächelnd vor meiner Wohnung. Kyle schenkt mir ein ehrliches Lächeln und zieht seinen imaginären Hut. »Immer wieder gern. Ich warte noch, bis Sie im Haus sind, Anweisung vom Boss.«
»Wie aufmerksam«, zwinkere ich und schnappe mir schmunzelnd meine Einkaufstüten. Winkend schließe ich die Tür, mache auf dem Absatz kehrt und betrete den Apartmentkomplex. Durch die Scheibe in der Tür sehe ich, dass Kyle tatsächlich wartet, bis diese hinter mir ins Schloss gefallen ist. Ich mag ihn, er ist immer nett und zuvorkommend. Schön, dass jemand wie er, einer der Benellis, auch so sein kann. Was er anstellt, wenn es dunkel ist, will ich nicht wissen. Vielleicht ist es ein Fehler, aber mein Kopf schaltet dieses Wissen gekonnt aus. Ich stapfe die sieben Stockwerke hinauf bis in mein Apartment und bin erleichtert, als ich die zwei schweren Türen im Flur auf der Kommode ablegen kann. »Home Sweet Home«, murmle ich zu mir selbst und streife mir die Schuhe ab. Meine Tasche findet ihren Platz am Haken. Mit müden Knochen schleppe ich mich ins Schlafzimmer und werfe mir etwas Bequemeres über, schließlich ist heute Samstag und ich plane nicht mehr, das Haus zu verlassen.
Da die Einkäufe sich leider nicht allein ausräumen, verstaue ich sie schnell. Meine Küche sollte ich auch mal wieder aufräumen, fällt mir auf. Zwei Teller stehen in der Spüle und drei Gläser daneben. Außerdem ist der Topf auf dem Ofen von vorgestern und sicher schon schlecht. Seufzend schnappe ich mir einen Lappen und beginne mit der Arbeit. Es hilft ja alles nichts. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, oder?

Der Tag vergeht schleppend und als der Abend hereinbricht und meine Pizza langsam im
Ofen vor sich hin bäckt, öffne ich die Packung Pillen aus der Apotheke und schlucke eine mit Wasser, bevor ich das noch vergesse. Anschließend kann ich meine Gedanken nicht mehr von dem geschehenen abwenden. Der Fernseher läuft leise im Hintergrund und ich lehne mich entspannt auf dem Sofa zurück, folge dem Programm allerdings nicht. Es sind ohnehin mal wieder nur die Nachrichten. Anscheinend gab es noch mehr tote in den letzten Tagen. Zugegeben verfolge ich das Ganze nicht mehr so wie zu Beginn. Nach der ganzen Sache mit Santino und dem Gefallen, hatte ich mit der Suche nach meinen biologischen Eltern allerhand zu tun. Ich habe mir selbst bei der Arbeit stundenlang den Kopf zerbrochen, und nach dem, was Santino mir heute erzählte, erst recht. Wieder einmal gehe ich alles im Kopf durch, doch es scheint nur noch weniger Sinn für mich zu machen. Pausenlos kreisen meine Gedanken einstig und dieses Thema und langsam bekomme ich wahrlich Kopfschmerzen davon. Gott. Stöhnend erhebe ich mich und trabe in die Küche, um meine Pizza aus dem Ofen zu holen. Ich schneide sie während sie dampft und sinke zurück aufs Sofa, um sie zu essen.
So in dem Thema der letzten Tage versunken bemerke ich fast das Klingeln der Tür nicht. Hellhörig schrecke ich auf und das nächste Stück bleibt mir fast im Hals stecken. Es ist acht Uhr abends, wer will jetzt noch etwas von mir?

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt