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SANTINO

Wochen sind vergangen, seit wir die Staaten Hals über Kopf verlassen mussten, ohne etwas mitnehmen zu können. Tatsächlich hatte Maya uns verraten, und dass nicht das erste Mal. Wie Kyle und ich herausfanden, hat sie für Julian gearbeitet. Wie sie mit dem NYPD verbunden war, wissen wir bis heute nicht. Nur eines weiß ich ganz sicher, diese hinterhältige Schlampe hat Lillian in ein tiefes Loch gestürzt. Sie und unsere Flucht. Ich weiß nicht, inwiefern wir in die nächsten Jahren zurückkönnen. Es ist ungewiss, ob das NYPD den Haftbefehl fallen lässt, oder er weiter aufrecht bleibt. Am Tatort haben wir genug Beweise hinterlassen, die uns entlasten sollten. Aber die Untersuchungen könnten Monate dauern. Ja, ich habe Julian umgebracht, so wie ich auch seinen Sohn getötet habe, aber wurde er je für die Morde verantwortlich gemacht, die er begangen hat? Nein. So viele unschuldige Menschen kamen wegen ihm ums Leben, und er wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Vielleicht hätte ich an dem Abend nicht abdrücken sollen. Vielleicht wäre er dann für all seine Taten bestraft wurden, doch das Risiko wäre zu hoch gewesen, dass er entkommen wäre. Er hat es verdient und ich bereue es bis heute kein bisschen. Einstig um Lillian tut es mir leid. Jeden Tag sehe ich, wie sehr sie unter der Situation leidet. In den ersten Tagen ist ihr der traurige Ausdruck in den Augen nicht einmal von der Seite gewichen. Inzwischen hat sie sich gut eingelebt, aber ich weiß, dass es ihr schwerfällt hier zurecht zu kommen, ohne Aussicht auf ein Ende. Sie vermisst ihre Eltern und ihr Zuhause. Ich fühle mich schlecht deswegen.

Unsere Zuflucht ist ein kleines Paradies. In der Heimat meiner Familie, auf Sizilien, gibt es eine Villa in Palermo, am Rande der Stadt, etwas höher gelegen, von der man einen schönen Ausblick auf die Bucht hat. Da die Behörden uns hier in Ruhe lassen, haben wir nichts zu befürchten. Meine Tante bewirtet das Haus ab und zu und hat sich die letzten Jahre hier eingerichtet, auch wenn es eigentlich meinem Vater gehört. Lillian und ich haben uns eines der Zimmer im ersten Stock genommen, und uns so gut eingelebt, wie es geht. Früher habe ich jeden Sommer hier verbracht und war auch einige Male zwischen den Sommern hier. Wir haben Weihnachten gefeiert, die Hochzeiten diverser Verwandten in Corleone und Feste, bis die Sonne aufging. Hier bei meinen Wurzeln fühle ich mich wohl.

Die Sonne prallt mir auf die gebräunte Haut und verleiht mir Kraft. Auf dem Balkon in Richtung Meer ist es angenehm. Ich stehe schon eine Weile am Geländer und reibe meinen Daumen über das lasierte Holz der Brüstung. Heute ist Weihnachten, aber die Temperaturen sind sommerlich warm. Das liebe ich so, kein kalter Winter, keine fiesen Schneeberge und Blitzeis. Nur Sommer, Sonne, Sonnenschein.
Meine Gedanken schweifen um das heutige Fest. Lillians Eltern werden kommen. Vor ein paar Tagen habe ich sie überzeugt, sie einzuladen. Zuerst hat sie sich geziert, aber nun freut sie sich auf sie. Ich weiß, dass sie die Feiertage bei ihnen verbringen wollte und ich hoffe, ihr hiermit etwas zurückgeben zu können. Die Opfer, die sie für mich erbracht hat, werde ich ihr nie zurückzahlen können. Vielleicht wird ihre Stimmung so etwas besser. Sie wuselt bereits den ganzen Tag in der Villa herum, es ist ein kläglicher Versuch sich etwas zu beruhigen. Auch jetzt höre ich sie im Zimmer auf und ablaufen. Sie sollte sich ausruhen, riet Bernardino ihr. Ihre Wunden sind zwar äußerlich verheilt, aber noch immer machen ihr die Dinge, die sie erlebt hat zu schaffen. Ich sehe es immer, wenn ich ihr in die Augen schaue. Sie sind so voller Leid und strahlen gleichzeitig so klar, wenn ich bei ihr bin. Sie bedeutet mir so viel...
Leise laufe ich über den hellen steinernen Travertin Boden auf die Schiebeglastür zu und zwänge mich hindurch ins Schlafzimmer. Lillian steht mit dem Gesicht zu mir neben dem Bett und betrachtet zwei Blusen, die auf den gemachten Laken liegen. »Hey, was tust du?«, frage ich sie neugierig und schließe die Tür mit einem kleinen klicken. Im Zimmer ist es angenehm kühl und ich bin froh über die Klimaanlage, die die Hitze von draußen etwas erträglicher macht, selbst wenn es im Dezember hier nicht so extrem wie im Sommer ist. Schneien wird es hier nicht, frieren schon gar nicht. Die niedrigste Temperatur, die wir in den letzten Wochen hatten, waren fünfzehn Grad nachts.
»Ich weiß nicht, was ich anziehen soll«, gesteht die Brünette Schottin mir und grübelt Lippenbeißend darüber nach. Mit zuckenden Mundwinkeln trete ich näher und lege meine Hand an ihre Hinterkopf, um ihre Strähnen zwischen meinen Fingern zu drehen. »Nimm die linke«, rate ich ihr und deute auf das rosé farbige Stück Satin. »Wieso?«, möchte sie wissen. »Sie passt zu deiner Kette«, begründe ich meine Entscheidung und berühre den goldenen Anhänger für den Bruchteil einer Sekunde. Ein Lächeln macht sich auf Lillians Mund breit, als auch als den Anhänger der betenden Hände berührt. Dankend stellt sie sich auf Zehenspitzen und drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihrer Bluse bewaffnet im angrenzenden Badezimmer verschwindet. »Danke!«, ruft sie noch und die Tür fällt ins Schloss.
»Du kannst dich auch hier umziehen«, lasse ich sie wissen, »da gibt es nichts, dass ich nicht schonmal gesehen hätte.«
»Ich weiß«, antwortet sie gedämpft durch die Holztür, »aber wenn ich mich vor dir umziehe, werden wir den Rest des Abends verpassen.«
Ein guter Punkt.
»Spielverderberin«, murre ich trotz allem unzufrieden und falle rückwärts aufs Bett. Seufzend starre ich an die weiße Decke und zähle die Minuten, bis sie fertig ist. Dabei versuche ich sie mir nicht nackt vorzustellen. Vermutlich würden wir dann gar nicht mehr aus dem Zimmer kommen. Seit dem Krankenhaus in London ist zwischen Lillian und mir nichts intimes mehr geschehen. Naja, zumindest kein Sex. Ich vermisse es. Ich vermisse sie. Und je länger es andauert, desto frustrierter werde ich, selbst wenn ich es nicht tun werde. Ich will, dass es ihr besser geht, bevor wir es tun. Das, was in London passiert ist... sie hat es noch nicht verarbeitet und ich will sie zu nichts zwingen, dass sie nicht will. Ich muss erst wissen, wie es ihr mit der Situation ergeht, besonders nach ihrer Entführung. Wenn sie es nicht verarbeitet, weiß ich nicht, was geschehen wird. Ich habe Angst, dass das gleiche passiert wie mit meiner Mom. Das sie... es beenden will. Auch wenn sie ab und zu lacht, weiß ich das sie leidet. Wenn ich sie verlieren würde, dann wüsste ich nicht, wie ich weiterleben könnte. Ich kann Lillian nicht verlieren.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt