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LILLIAN

Schneebedeckte Berggipfel und endlose Hügellandschaften, die im weißen nass verschwinden, sind für ein Mädchen wie mich, dass ihre meiste Lebzeit in Städten verbracht hat, ein seltener Anblick. Ich wache auf dem Rücksitz des Jeeps auf, mein Kopf auf Santinos Schoß und meine Füße auf meinem alten Sitzplatz. Seine Jacke liegt über meinem Körper, und mir ist glücklicherweise nicht mehr so kühl wie gestern Abend. Im Wagen besudelt mich eine Mischung aus leiser Musik, Geruch nach frischen Kaffee und die Gespräche von Kyle und dem angsteinflößenden Bodyguard auf dem Beifahrersitz, dessen Namen ich nicht kenne. Die Sonne ist bereits über die Berge gekrochen und scheint warm durch die Fensterscheiben.
»Dornröschen ist wieder unter uns«, scherzt Santino und streicht mir meine Haare aus dem Gesicht. Peinlich berührt setze ich mich auf und rutsche wieder zurück auf meinen Platz. Gott, hoffentlich habe ich nicht auf seine teure Hose gesabbert. Peinlich Lillian... einfach nur peinlich. »Wie lange habe ich geschlafen?«, möchte ich wissen und erhasche so auch Kyles Aufmerksamkeit, der mir durch den Rückspiegel einen prüfenden Blick zuwirft. Vermutlich schaue ich aus wie eine Vogelscheuche. Hektisch kämme ich mir mit meinen Händen durch meine dicken braunen Haare und bekomme prompt einen dampfenden Becher duftenden Kaffee unter die Nase gehalten. »Etliche Stunden, kann man wohl sagen. Wir sind fast da, Dornröschen«, scherzt Kyle und benutzt absichtlich diesen blöden Spitznamen, den mir Santino soeben verpasst hat. Der Italiener schiebt mir auffordernd den vollen Pappbecher noch ein Stück unter die Nase. »Danke«, murmle ich mit schlaf belegter Stimme und rieche an dem köstlichen Getränk, dass mir gleich meine Müdigkeit aus den Knochen treiben wird. »Wann habt ihr den besorgt?«
»Vor etwa zwanzig Minuten an einer Tankstelle. Er tut seinen Job«, schmunzelt Santino und hebt seinen prostend in die Höhe. Skeptisch koste ich aus dem To go Becher, muss feststellen, dass er nicht so übel ist. Ich meine, dafür dass er von einer Tankstelle stammt.
»Und wann sind wir da?«
»Bald«, besänftigt Santino mich und streift seine Hand über meinen rechten Oberschenkel. Allein diese Geste löst einen wohligen Schauer in mir aus. Ich reagiere auf seine klitzekleine Berührungen, wie ich auf keinen anderen reagiere. Er löst etwas in mir aus, dass ich nicht beschreiben kann. Aber es fühlt sich gut an, ihn bei mir zu haben. Als ich im Krankenhaus aufwachte, war ich so dankbar, dass er da war und ich nicht allein in dem Zimmer der Intensivstation lag. Ich hatte mich ohnehin verloren gefühlt. Er hat mir eine gewisse Sicherheit gegeben, die ich nicht missen möchte. Beim ihm fühle ich mich tatsächlich wohl. Es ist wie nachhause kommen.

Nachdem ich die Hälfte meines Kaffees ausgetrunken habe, schlucke ich meine morgendliche Dosis Tabletten, bevor ich den Kopf aus dem Fenster wende und meine Stirn gegen die Autotür lehne. Vom warmen Becher lasse ich mir die Finger wärmen und genieße den schönen Ausblick. Der Jeep ist weitaus das einzige Auto auf der einsamen Straße durch die schottischen Highlands. Hier oben, so weit im Norden liegt bereits Schnee und bedeckt die Landschaft wie Zuckerwatte unter sich. Natur so weit das Auge reicht, zu beiden Seiten der Straße, die nur notdürftig geräumt ist. Zwei Spuren zu jeder Seite in den Schnee gefahren, über die die Räder des Jeeps rollen. Kyle fährt vorsichtig, was ich begrüße. Mitten im nirgendwo in den Graben zu fahren, wäre wohl definitiv ein Schuss in den Ofen. Hier draußen könnte es Stunden dauern, bis uns jemand zur Hilfe kommen würde. Vorausgesetzt hier gibt es Empfang.
Ich genieße die Stille und Ruhe, die die Berge auf mich haben. Schottland ist wirklich wunderschön. Die malerische Landschaft zieht mich so in ihren Bann, dass ich jegliches Gefühl für Zeit in den weiten der schneebedeckten Wiesen verliere.

Irgendwann rücken die Häuser am Horizont immer näher und schon bald passieren wir die Vororte einer Stadt. Steinhäuser ohne Putz, teils sehr alt, aber auch moderne Häuser flankieren unseren Weg. Höfe, Schulen, Supermärkte. Landleben gemischt mit Stadt. Endlose Weiden, auf denen zu dieser Jahreszeit nicht viel los ist. Je tiefer wir ins Stadtzentrum vordringen, desto historischer werden die Häuser. Stein an Stein, Schornstein an Schornstein, aus denen es raucht. Kleine Shops zieren die Erdgeschosse der mehrstöckigen Häuser am Rande der Hauptstraße. Inverness ist nicht das verschlafene Örtchen, dass ich mir beim Lesen des Ortsschildes vorgestellt habe. Es ist eine pulsierende Stadt im Norden Schottlands, mit Hafen und Fluss, dem wir stetig folgen. Weihnachtsdekoration hängt bereits hinter den meisten Fenstern der Läden, geschaufelter Schnee türmt sich auf den Fußwegen. Es schaut aus wie in einem Wintermärchen. Ich drücke mir fast die Nase am Fenster platt. Gott ist das schön hier. Ich würde mir am liebsten jeden Zentimeter anschauen, und bin umso enttäuschter, als ich merke, dass uns unser Weg aus Inverness herausführt. Am Fluss entlang - Kyle erzählte etwas vom Ness - fahren wir tiefer in die Berge. Irgendwo glaube ich eine Ausschilderung für den Loch Ness zu lesen. Nebel hängt im Tal, die Straße führt uns weiter bergauf. Eine gute halbe Stunde dauert es, bis Kyle eine unscheinbare Abfahrt mitten in den Wald nimmt. Unter einem Dach aus Nadel- und kahlen Laubbäumen fahren wir über die einspurige Straße bis zu einem mächtigen imposanten Eisentor, dass plötzlich aus dem Boden erhebt und ein mysteriöses Siegel in dessen Mitte hat. DC steht verschlungen geschrieben. Planlos was es bedeutet oder wo wir uns befinden, luge ich zwischen den Sitzen hervor und beobachte, wie Kyle seine Scheibe nach unten lässt und ein unscheinbarer Mann an den Wagen tritt. »Keith«, begrüßt er ihn erfreut und schlägt bei ihm ein. »Kyle, ihr seid früher da als erwartet«, stellt er fest und späht neugierig in den Wagen, »ich sage oben Bescheid und lasse euch durch. Sehen wir uns nachher?«
»Klar, danke Mann«, versichert Kyle ihm und lässt das Fenster wieder nach oben fahren. Keith kehrt in das kleine Häuschen neben dem Tor zurück und kurz darauf schwingen die beiden Seiten nach innen auf und geben uns die lange Einfahrt zwischen den Bäumen frei. Beeindruckt präge ich mir jedes Detail dieses Anwesens ein. Es ist so unscheinbar im Wald verborgen, dass man es nicht von der Bergstraße aus sieht. Erst nach mehrfachen Kurven zeigen sich langsam die hohen Mauern eines alten Landsitzes. Große Steinböcke, Türme und edle Fensterrahmen. Säulen die den Eingang stützen, Stuck und jede Menge Ornamente unter den Simsen der Fenster. Ich komme aus dem Stauen nicht mehr heraus.

»Was - wo sind wir hier?«, frage ich atemlos als wir auf den Vorplatz rollen. Sogar einen Springbrunnen umrunden wir, ganz elegant wie in einem Schloss. Ich entdecke mehrere Garage vor denen wir parken und Kyle sich zufrieden seufzend anschnallt und die Geräusche des Motors abklingen. »Home Sweet Home«, murmelt er und klatscht in die Hände. Hier wohnt er?
»Willkommen im Castle der Duncans. Ich denke, sie werden euch schon erwarten«, rätselt er und dreht sich zu uns um. Neben uns parkt der zweite Wagen mit den vier Security Mitarbeitern und reißt mich aus meiner Trance. Ich bin zu fasziniert von diesem Anwesen.
»Kyle hat recht, wir sollten rein gehen, bevor sie uns holen kommen«, merkt Santino an und stibitzt sich seine Jacke zurück, die bis eben noch auf meinen Beinen lag. Er hat recht. Nach ihm öffne ich meine Tür und rutsche umständlich auf den zugeschneiten Kies, der unter meinen Schuhen knirscht. Es tut immer noch etwas weh beim Laufen und Aufstehen, besonders nach der langen Fahrt fühlt es sich an, als hätte mein Darm sich verschoben. Gott, ich brauche dringend ein Bett oder eine heiße Dusche.

Eine beißende Kälte schlägt mir entgegen und bringt mich dazu, meine Jacke fest, um meiner Brust zusammenzubinden. Gott ist das kalt hier oben. Jetzt brauche ich definitiv etwas Warmes.
»Lass mich dir helfen«, bietet Santino an und gesellt sich an meine Seite, damit ich mich bei ihm unterhaken kann. »Bitte«, murmle ich und laufe über die Einfahrt, »ich bin schon groß.« Scherzend schaue ich auf und sein Blick klart etwas auf. Er macht sich seit Tagen sorgen, was echt süß ist. Aber heute schwingt noch etwas anderes in seinen Augen mit, als sie die meine treffen. »Was hast du?«, frage ich neben ihm durch den Schnee stapfend. Santinos Maske bröckelt langsam. »Ich habe dir noch nicht die ganze Wahrheit erzählt«, gesteht er und mein Magen dreht sich bei seinen Worten um.
»Was?«
Meine Stimme ist kratzig. Was meint er damit? Santino hält mitten vor den Stufen, die hinauf zur Haustür führen inne und dreht mich zu sich. Seine Hände schieben sich unter meinen Mantel auf meine Taille und er zieht mich näher, bis wir uns berühren. »Ich sagte, dass wir nach Schottland fahren müssen, um meine Theorie zu bestätigen«, wiederholt er seine Worte und ich nicke wissend. Ich kann mich bestens daran erinnern. »Ja«, runzle ich meine Stirn verwirrt und sehe auf, als hätte ich einen Geist gesehen. Mein Herz rast, weil seine Worte solch ein großes Fragezeichen in mir auslösen. Was will er damit sagen? Was erwartet mich hinter dieser Tür?
»Santino?«, drängle ich ihn mit flehenden Augen, weil er nichts sagt. Ich sehe, wie schwer es ihm fällt. Seine Brauen sind zusammengezogen und die Stirn liegt kraus, so wie meine. Doch seine, weil er die Antwort auf das, was hinter der Tür liegt, kennt. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich grabe meine Finger in den dicken Stoff meiner Jacke, trete einen Schritt näher, so dass kein Blatt mehr zwischen uns passt. So nah vor ihm zu stehen bedeutet, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen muss, um ihn ansehen zu können. Er ist viel größer als ich, was mir in dem Moment auch das Gefühl von Sicherheit verleiht.
»Kyle kamen die Daten die James und Sawyer fanden, bekannt vor. Ich weiß nicht, ob du wusstest, dass er für die Duncans, einen schottischen Clan - neben meiner Familie - arbeitet. Er ist bestens mit allem vertraut, was sie angeht«, erzählt er und hat diese gewisse Ruhe, die seine Stimme rüberbringt in sich. »Was willst du damit sagen?« Meine Stimme ist ein einziges Krächzen, als hätte man meine Stimmbänder über Schleifpapier gezogen.
»Ich denke das solltest du von ihnen erfahren, ich habe kein Recht dazu. Ich will nur das du weißt, dass ich selbst keine Ahnung von all dem hatte, bis vor ein paar Tagen.«
Seine kryptischen Worte jagen mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Was hat das alles zu bedeuten? »Santino, was?«
»Lass uns reingehen, es wird sich alles klären, mia bella«, wispert er mir zu und senkt seine Lippen liebevoll auf meine Stirn, bevor er mich hineinführt. Stufe um Stufe schlägt mein Herz ein wenig schneller gegen meine Brust, als wir oben ankommen ist es ein unerbittliches Hämmern gegen meinen Brustkorb. Ich atme flach aus und ein, sehe die Tür sich öffnen. Wir treten über die Schwelle ins warme Foyer des Castles und werden von zwei Männern und Frauen begrüßt, die schon sehnsüchtig auf uns gewartet haben.

Mafia King | 18+Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt