Kapitel 1

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ELF MONATE SPÄTER ...

31. August

Mein Blick schweifte über einen unscheinbaren dunkelbraunen Haarschopf. Sie hatte mittellange Wellen, die ihr braunes, rundes Gesicht wohl umformten. Sie sollte sich vielleicht einen Pony schneiden lassen, das würde ihr sicher gut stehen.

Unsere Blicke trafen sich. Ihre Augen waren ebenso unscheinbar, wie ihr restliches Auftreten. Sie waren hellbraun. Ihr Körperbau war sportlich und kurvig und ihre Klamotten so basic, dass sie in der Masse einfach unterging: Weiße Sneaker, eine blaue Jeans, ein weißes T-Shirt und eine schwarze, lange Strickjacke.

Als sie mich erkannte, verformten sich ihre Pupillen zu vertikalen Schlitzen.

Ihr Körper erstarrte. Sie hatte Angst.

Ich lächelte.

»Der Kassierer wartet«, sagte ich. »Wollen Sie nicht zahlen?«

Die Werwölfin schluckte.

Selbst ihr Einkauf verriet sie nicht. Auf der anderen Seite des Kassenbandes lagen ein Bund Karotten, zwei Kaffee Latte to go und eine Packung Cookies.

»Miss?« Der Mann an der Kasse des kleinen Supermarktes stützte sein Kinn in eine Hand und blickte genervt zu der Frau auf. »Die Schlange wird immer länger. Ich habe hier einen Job zu tun.«

Ihr Blick landete einen Moment auf den Waren, die ich auf das Kassenband gelegt hatte, woraufhin ihr Gesicht noch mehr an Farbe verlor. Sie blickte mir wieder in die Augen.

»Miss!?« Der Kassierer wurde zunehmend genervter.

Sie nickte und griff in ihre hintere Hosentasche, ohne mich aus den Augen zu lassen. Mein Blick hingegen fiel auf ihre Hände, die zittrig einen Zehn-Dollar-Schein aus dem Geldbeutel fischten.

Ihre Fingernägel waren lang, spitzzulaufend und schwarz lackiert – wie gefeilte Krallen.

Mein Lächeln wurde breiter. Das war aber nicht so basic.

»Einen schönen Tag noch«, sagte der Kassierer möglichst nett und lächelte verkrampft.

Ohne ein Wort zu sagen schnappte sich die Werwölfin ihren Einkauf, ließ die fünf Dollar und zwei Cent Rückgeld auf dem Tresen liegen und verließ den Supermarkt so schnell, wie es einem Menschen nicht möglich war.

Ich hob eine Augenbraue. Wie unprofessionell.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Kassierer, verzog das Gesicht und fischte das Rückgeld wieder vom Tresen; ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. »Manche Menschen hier sind so seltsam«, flüsterte er mir zu, als wolle er mir ein Geheimnis verraten. Menschen ... genau.

Ich erwiderte nichts darauf, vergrub bloß meine Hände in den vorderen Taschen meiner Jeanshose und warf meiner Schwester Mony einen fragenden Blick zu.

Sie schüttelte den Kopf und ich nickte zustimmend.

Sie hatte recht. Hier mitten in Porcupine, einem kleinen Dorf in Ontario, würde eine Verfolgungsjagd auf offener Straße viel zu viel Aufsehen erregen.

Der Kassierer zog die drei Tetra Pak Pfirsicheistee, das Panzerklebeband, das Bund schwarzer Müllsäcke, den Karton Einweghandschuhe, den Spaten und das billigste, kleine Topfpflänzchen, das Mony und ich hatten finden können, über das Kassenband.

Er sah erst mich und dann Mony fragend an.

»Gartenarbeit«, antworteten meine Schwester und ich wie aus einem Munde auf die unausgesprochene Frage. Ich blinzelte den Mann freundlich an. »Das großartige Wetter muss man einfach ausnutzen.«

HUNTING: After You DiedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt