Der Junge aus dem Bus (1/2)

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pov: lace

Er saß wieder da. Im Bus. Hinten rechts in der letzten Reihe. Heute hatte er einen schwarzen Beanie auf. Er stand ihm gut. Ihm stand alles gut. Aber er sah wieder verdammt traurig und niedergeschlagen aus. Ich würde gerne wissen, was ihm passiert ist. Der kleine Junge sitzt wieder neben ihm. Der kleine Junge heißt Sam. Ich hab die 7. Klässler auf dem Schulhof über ihn reden gehört.
Aber ich weiß nichts über den größeren Jungen. Außer dass es ihn verdammt scheiße geht und ich würde ihm gerne helfen. Vielleicht irgendwann wenn Sam nicht da ist. Ich könnte mich neben ihn setzten. Vielleicht würde ich mich ja trauen mit ihm zu sprechen. Er geht nicht auf unsere Schule, er steigt immer am Bahnhof aus.

2 Wochen später

Sam war heute nicht da. Eigentlich sollte ich glücklich sein aber der Junge sah um vielfaches Niedergeschlagener aus als zuvor. Er hatte nur ein T-Shirt an. Ich erkannte Narben und auch frische Wunden an seinen Armen. Ich wollte ihn einfach nur umarmen. Umarmen und nicht mehr loslassen. Einfach für immer in meinen Armen halten. Er starrte aus dem Fenster. Ich fasste einen Entschluss. Jetzt oder nie. Ich stand von meinem Sitzplatz auf und setzte mich neben ihn. Ich sah nach vorne und spürte seine Blicke auf mir. Langsam hob ich meinen Kopf und sah ihn an. Ich zog vorsichtig und ganz leicht meine Mundwinkel nach oben und murmelte ein "Hi". Er erwiderte nur mit einem leichten Nicken. Ich sah es kaum. Als der Bus am Bahnhof hielt, stand er auf und ging durch die hintere Tür nach draußen.

Sam war nicht mehr da. Ich setzte mich jeden Tag neben den Jungen. Er schien nichts dagegen zu haben, ob es ihn gefiel wusste ich aber nicht. Es war Sommer und er hatte jeden Tag ein T-Shirt an. Ich sah jeden Tag neue Wunden. Wir sprachen nicht viel während der Busfahrten. Ich setzte mich neben ihn, begrüßte ihn manchmal und er nickte mir zu. Irgendwann stieg er aus. Jeden Tag.

"Hi" - "Hi" Wow. Ich hörte das erste Mal seine Stimme und... sie war wundervoll. Ich liebte sie. Sie war ziemlich hoch aber sie hatte etwas wirklich magisches an sich. Ich wollte mehr von ihm hören. Aber da er mir heute das erste mal überhaupt geantwortet hatte, wollte ich nicht aufdringlich sein und ihm fragen stellen oder ähnliches. "Ich bin nach den Sommerferien nicht mehr da" Ich erschrak etwas. Es könnte das letzte mal sein, dass ich ihn sah und ich wollte ihn nicht einfach so gehen lassen. Ich fand ihn viel zu interessant. "Wo bist du dann?" fragte ich. Er antwortete nicht sofort. "Willst du mit aussteigen?" fragte er irgendwann, woraufhin ich mit einem etwas zögerlichen Ja antwortete. Gemeinsam stiegen wir beim Bahnhof aus. "Wir gehen in die Stadt, okay?" sagte er. Ich stimmte zu.

Wir setzten uns nebeneinander auf eine Parkbank. Auf dem Weg hierher hatten wir beide geschwiegen. Es war aber keineswegs unangenehm, eher als würden wir uns ohne Worte verstehen. Nach kurzer Zeit sagte er dann: "Ich heiße Jay" "Ich bin Lace" sagte ich nur. Wieder schwiegen wir uns kurz an. "Soll ich dir... was über mich erzählen?" Er sah mich fragend an. "Wenn du magst, gerne" Ich versuchte ihn anzulächeln, wusste aber nicht, wie gut mir das gelingen würde. Er begann zu erzählen. Er war 16 Jahre alt, und im Moment in einer Tagesklinik. Seine Eltern waren getrennt und er hatte zu beiden kein gutes Verhältnis, darum lebte er in einer Wohngruppe. Als er schließlich geendet hatte, begann auch ich etwas über mich zu erzählen. Mir viel auf, dass wir einige Gemeinsamkeiten hatten. Ich bin vor zwei Wochen 17 geworden und war vor einem halben Jahr in der Klapse. Ich wohnte alleine. Ich hatte auch Narben. Ich zeigte sie allerdings nicht und sagte ihm davon auch nichts. Ich konnte nicht damit umgehen. Es ging nicht.

Wir saßen bestimmt schon zwei Stunden auf der Bank, als er mich fragte: "Schwänzt du eigentlich gerade für mich?" "Eh... ja" erwiderte ich nur "Du aber auch oder nicht?" Er sagte nichts darauf.

Es fühlte sich wahnsinnig gut an, mal mit jemandem ernst zu reden. Und noch viel besser: Ich lachte wieder. Ich habe seit dem ich eingeweisen wurde nicht mehr gelacht, das wurde mir gerade schmerzhaft bewusst. Um so schöner war es, dass er da war. Ich wusste nicht ob er bei mir bleiben würde, oder wie lange ich so glücklich sein konnte, aber es war wunderschön.

Auch wenn Sommerferien waren saßen wir heute beide zusammen im Bus. Wir hatten beide beschlossen, dass der Tag gestern unbedingt wiederholt werden musste. Als der Bus drei Haltestellen vor dem Bahnhof hielt lächelte Jay mich vorsichtig an, nahm meine Hand und zog mich aus dem Bus. In mir expoldierten Schmetterlinge. Wow. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Als wir aus dem Bus ausgestiegen waren ließen wir beide unsere Hände nicht los. Es fühlte sich viel zu gut an.

Als wir einige Stunden redend im Park verbracht haben fragte er schließlich: "Wollen wir zu mir fahren" - "Klar"

Bei seiner Wohngruppe angekommen legten wir uns gemeinsam auf sein Bett. Ich genoss es, in seiner Nähe zu sein. Er gab mir halt und ich glaube ich ihm auch. "Ich denke... ich sollte dir noch was sagen..." durchbrach er irgendwann die entstandene Stille. "Mein Bruder Sam... hatte..." Ich merkte wie schwer es ihm fiel, die Worte auszusprechen, die er mir sagen wollte. Eine Träne rollte über seine Wange. Ich zog meinen Arm aus der Umarmung, in der wir in seinem Bett lagen und strich ihn über sein Gesicht, um sie wegzuwischen. Er versuchte mir etwas zuzulächeln, schien aber nicht die Kraft dafür zu haben. "Du musst es nicht sagen wenn du nicht willst. Es ist okay" flüsterte ich in die erneute Stille. "Er hatte... einen Fahrradunfall. Ich sollte ihn abholen weil die Strecke etwas gefährlich war aber er meinte er wolle alleine fahren. Es war meine Schuld" Er begann stärker zu weinen. Ich hielt ihn einfach nur fest im Arm, bis ich irgendwann flüsterte: "Es ist nicht deine Schuld" Ich hielt ihn fest in meinen Armen bis er sich beruhigte.

Am nächsten Tag fuhr ich von mir aus direkt zu seiner Wohngruppe. Wir gingen durch den Wald etwas spazieren und ich hatte das Gefühl, wir würden uns schon unser ganzes Leben kennen. Wir trafen uns erst zum dritten Mal aber ich wusste trotzdem schon fast alles über ihn und er über mich. Er war der erste, dem ich erzählt hatte, dass ich nicht binär bin. Er gab keinen Kommentar über meine Hautfarbe ab. Die Stadt in der wir wohnten war nicht sonderlich groß und ich war es gewohnt von allen Seiten Kommentare dazu bekommem

"Wir machen heute Abend Lagerfeuer. Willst du bis dahin bleiben?" fragte er mich irgendwann. Ich stimmte sofort zu. Ich wohnte alleine in einer kleinen Wohnung und es interessierte niemanden, wann ich nach Hause kam. Ich hatte sobald ich 16 geworden bin, einen Mietvertrag unterschrieben und war hier eingezogen. Meine Eltern diskutierten dauernd und stritten mit meiner Schwester und ich wollte einfach nur weg. Und sie akzeptierten mich nicht.

"Klar" stimmte ich sofort zu. Ich freute mich schon. War bestimmt schön andere gleichaltrige kennen zu lernen und vor allem würde ich noch mehr Zeit mit Jay verbringen.

Ich zählte insgesamt 17 Personen am Lagerfeuer, als Jay und ich uns dazu setzten. Es waren noch einige kleine Baumstämme frei und wir setzten uns auf einen. Die meisten hatten ein Bier in der Hand, Jay und ich lehnten jedoch beide ab. Ich mochte keinen Alkohol. Bei Jay lag es an seiner Mutter, die Alkoholikerin war und er Angst hatte auch so zu werden. Es war eine ausgelassene Stimmung am Lagerfeuer, alle erzählten sich etwas und es wurde viel gelacht. Irgendwann lehnte Jay sich an mich. Ich legte vorsichtig einen Arm um ihn und streichelte ihn etwas über den Arm. Ich wusste, dass es ihm gefiel, wir hatten schon öfter solche Situationen in den letzten drei Tagen.

Einer der anderen Jungen gegenüber von uns fragte irgendwann laut zu uns: "Seid ihr eigentlich zusammen" er lächelte. Ich sah hinunter zu Jay, der mittlerweile schon fast schlafend auf meinen Beinen lag. Ich lächelte etwas geheimnisvoll. "Noch nicht"

BoyxBoy Oneshots Trans* representationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt