06.04.2019; Cherrapunji, Indien
Donner rollte über den trüben, farblosen Himmel hinweg. Hier und da erhellten Blitze den verschwommenen Horizont. Regentropfen fielen auf ihre tief heruntergezogene Kapuze und umhüllten sie mit dem Duft der Kühle.
Trotz der Kopfbedeckung aus einem nicht üblen, wenn auch hässlichen Stoff, lief ihr das Wasser über das Gesicht, drang in ihre Ohren und Augen hinein.Doch sie schritt störrisch vorwärts, wie ein Soldat, der nicht seines Willens wegen in den Krieg zog. Sie achtete nicht auf ihre durchnässten Füße und den Drang, alles aufzugeben. Schon seit langem hatte sie gelernt, ihre eigene Meinung, ihre Wünsche zu unterdrücken und stark zu sein. Für ihre Familie und für sich selbst.
Niemand hatte sie je gefragt, ob sie ein anderes Leben wollte. Niemand hatte sie je gefragt, ob sie den Regen zum Kotzen fand oder ob sie vielleicht wie alle anderen Kinder zur Schule gehen wollte. Denn nichts war zu ändern. Das hier war ihr Schicksal und ihr Urteil zugleich.
„Esha, dann Liem, heute – Mani", nuschelte sie vor sich hin und sah zu dem grauen Himmel auf, der all ihre Gefühle zu spiegeln schien. Sie zögerte den Moment hinaus, in dem sie zu Hause ankommen würde und zugeben musste, dass sie schon wieder nichts zu essen hatte finden können. Sie wagte es nicht stehenzubleiben oder gar umzukehren, doch sie konnte extra langsam gehen, ihre Schritte oder die dreckigen Pfützen zählen. Was auch immer – sie musste sich ablenken.
Aber die drei Namen steckten in ihrem Kopf wie lästige Zecken fest. Egal, wie sehr sie versuchte, sie aus ihrem Herzen zu ziehen, die Wunde wurde immer größer.
Noch immer konnte sie ihren Bruder in ihrem Kopf husten hören. Es war kein normaler Husten, wie wenn sie selbst erkältet war. Es war etwas Anderes, etwas Unheimliches, etwas, bei dem man sich am liebsten die Ohren ganz fest mit den Händen zuhalten wollte. Vielleicht hatte es etwas Positives an sich, dass Mani heute beim Sonnenaufgang von ihnen gegangen war. Denn auch wenn er die Krankheit überlebt hätte, hätte er kein schönes Leben gehabt. Teilweise war sie neidisch auf ihren toten Bruder – nur zu gern würde sie auch einschlafen, für immer.
Hier in Indien litten etliche Menschen unter Hungersnot. Nur ein kleiner Anteil hatte genug zu essen. Sie wusste, dass ihre Familie nicht zu dieser gesegneten Minderheit gehörte, doch daran war nun mal nichts zu ändern. Genau das hasste sie am meisten.
Zügig ging sie nun weiter, ohne ihre Schritte zu entschleunigen. Doch es half kaum. Sie konnte ihre Gedanken nach dem heutigen Tag nicht sortieren.
Immer und immer wieder schrie sie etwas gegen den Wind an, doch im grollenden Donner verstummten ihre wilden Schreie. Schluchzend ließ sie sich dann an einer halb zerfallenen Bank nieder und vergrub ihr sonnengebräuntes Gesicht in den dreckigen, zerkratzten Händen. Ein Teil von ihr wollte für immer hier bleiben, auf immer und ewig auf dieser verwahrlosen Bank verweilen. Der andere sträubte sich dagegen. Es war der Drang nach Freiheit und Abenteuer, der Drang, loszusprinten und nie wieder zurückzukehren. Sie hatte diesen seit Jahren unterdrückt und sie würde es weiterhin tun. Und da war es, was sie zum Weinen gebracht hatte: Ihre Seele, die keine Ruhe fand und sich immer mehr spaltete.
Schon bald aber wischte sie sich das salzige Wasser von den Wangen. Sie musste damit aufhören, so oft ihre Tränen zu vergießen – immerhin war sie schon volle dreizehn! Ja, so war es. Lieber sollte sie sich um die übrigen Familienmitglieder kümmern.
Ihr Blick wanderte zu den schwankenden Bäumen, glitt über die Fassaden entlang bis hin zu dem rissigen Asphalt unter ihren Füßen. Da blieb er hängen. Vor der Bank lag ein Heft.
Der Gegenstand fiel ihr sofort auf. Wie ein einsamer Stern am dunklen Nachthimmel trat das Papier auf dem grauen Boden hervor. Die Seiten waren durchnässt und beschmutzt, sie bekam sogar Mitleid mit dem Magazin, als wäre es eine menschenartige Puppe, kein nutzloses Stück Papier.
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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝
Fantasy𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐩𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐯𝐨𝐥𝐥𝐞𝐫 𝐋𝐮̈𝐠𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐀𝐧𝐠𝐬𝐭. 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐳𝐰𝐚𝐧𝐠𝐡𝐚𝐟𝐭𝐞 𝐖𝐚𝐡𝐥 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐫𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠. 𝐕𝐢𝐞𝐫𝐳𝐞𝐡𝐧 𝐊𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐞𝐫 𝐒𝐮𝐜𝐡𝐞 𝐧𝐚𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐞𝐦 𝐍𝐚...