❀ Kapitel 9 - Der plötzliche Aufbruch

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Die letzte Energie verließ ihren Körper und sie fiel ächzend auf ihren Rücken. Sofort machte sich Schmerz in ihr breit, Erschöpfung ließ sich bald darauf spüren. Egal was gerade mit ihr passiert war; ob es überhaupt real gewesen war – es war eindeutig zu weit gegangen. Sie wollte diesen Schmerz nicht, wollte ebenso wenig den Tod, auf den alles hinauslief, verabscheute die ganzen Gefahren und Bedrohungen, den Fuchs und die Drider. Das weiße Zimmer und die Oberen. Leo, Talita und die Übrigen. Sie hatte genug davon. Sie wollte nach Hause.

„Shaik? Ist alles in Ordnung? Du bist schon zu lange weg, ich musste einfach wieder herkommen." Auf einmal stand Kjeld über ihr und hielt ihr die Hand hin, doch sie war zu missgelaunt, um diese anzunehmen. Sie hatte alles richtig gemacht. War nimmer und niemandem je aufgefallen, hatte sich stets richtig und aufrecht benommen – und doch meinte es das Schicksal nicht gut mit ihr. Was machte sie nur falsch?

Und dann noch Evans – Ich habe mir Sorgen gemacht. Schon klar. Als ob er dachte, dass schöne Lügen jemals zu einer Wahrheit werden!
Kjeld kümmerte nur sein eigener Leib. Er kam erfahren und selbstbewusst rüber, das war so klar, wie dass er bildhübsch war. Sie bewunderte ihn. Wollte von ihm lernen. Doch gleichzeitig war es ihr bewusst, dass Kjeld Evans sie niemals so sehen würde, wie sie ihn sah.

„Es ist schon okay. Mir ist nichts passiert." Heiter sprang sie auf die Beine. Sie wollte nicht, dass er sie so sah. So zerstört. Am Ende. Dass er sah, wie es wirklich in ihr aussah. In ihrer Seele.

Ihr geschwächter Körper hatte Mühe, aufgrund der Geschwindigkeit des unerwarteten Aufsprungs standzubleiben. Sie presste die Lippen zusammen, verschwommene Funken verdeckten vollständig ihr Blickfeld. Doch sie vergaß ihren Zustand, sobald sie nur auf das Gesicht ihres Gegenübers hinauf sah.
Kjelds Augen direkt auf sie gerichtet, strahlend blau und gefährlich nah. Anuk schmolz. Sie konnte gar nicht schlecht über ihn denken, wenn er so vor ihr stand. Wenn seine ganze Aufmerksamkeit ihr gewidmet war. Wenn seine Worte nur für sie erklangen. Es war bestimmt keine Liebe, kein Verliebtsein und keine Leidenschaft, die so oft in Märchen beschrieben wurden. Es war etwas komplett anderes, etwas, was sie nicht deuten konnte. Es war etwas Gruseliges, weil man es nicht verstand. Es war etwas, was einen bis in den Wahn trieb und unheimlich störte. Anuk würde ihr Leben geben, um es loszuwerden. „Weißt du noch wo wir aufgehört haben?"

Kjeld wirkte verwundert, er hatte bestimmt nicht gedacht, dass sie das Thema als Erste ansprechen würde. Niemand würde ihr so etwas zutrauen. „Ja. Du hast über die Abmachung nachgedacht. Doch wir wurden unterbrochen."

„Richtig. Dann lass es uns zu Ende bringen." Ehe er sich wundern konnte, weshalb sie plötzlich die Initiative ergriff, das Gespräch in ihre eigene Hand zu nehmen, fuhr sie schon fort. „Ich bin einverstanden, mit dir zusammenzuarbeiten. Doch auch ich habe meine Wünsche und Voraussetzungen."

Beide hielten inne. Kjeld räusperte sich, versuchte bestimmt, sein Misstrauen zu der ganzen Situation zu verbergen. Anuk konnte sich vorstellen, was in seinem Kopf vorging: Sie, der verlorene Welpe, hatte Wünsche? Voraussetzungen? Solch ein Widerspruch!

Er schien geduldig abzuwarten wollen, bis da mehr kam. Die Nacht verbarg ungeschickt sein gerührtes Schmunzeln. Anuk konnte die Spannung zwischen ihnen förmlich spüren, als wären sie zwei Magnete, die sich momentan eher abstießen, als anzogen. Zwei gleiche Pole.

Sie schienen beide den gleichen Wunsch zu verfolgen – dass der jeweils andere das Reden übernahm. Doch Anuk litt im Moment unter ihrer eigenen Unerschrockenheit. Sie verharrte im Dunkeln und wünschte sehnlichst den Moment herbei, wo er als Erster endlich nachfragen würde. Schließlich tat er es, vermutlich von seiner eigenen Neugierde geplagt.

„Und was sind denn deine Voraussetzungen?"

Anuk ließ sich Zeit. Sie genoss es, dass man sie fragte. Dass ihre Meinung nicht egal war. Dass sie nun zumindest für Anuk selbst nicht egal war. Sie wollte, dass sich der Moment wie Honig in die Länge zog, damit sie seinen süßen Geschmack noch länger an ihrer Zungenspitze schmecken könnte.

„Ich möchte Freundschaft auf Augenhöhe, Evans. Ich möchte, dass alles auf Gegenseitigkeit beruht und alles, was ich dir gebe, du erwiderst. Ich verlange, dass du Vertrauen in mir hast wie in niemand anderen." Sie wusste, dass sie ihre Worte nicht zurücknehmen konnte, egal, ob sie diese gleich bereuen würde. Sie würde niemals mutig werden können, aber sie konnte so tun, als würde sie es bereits sein.

„Ich bin in der Tat positiv überrascht, Shaik. Du hast mich unterhalten, aber auch ein wenig zum Nachdenken gebracht. Ich schätze deinen Wunsch nach meiner Anerkennung, doch genau diese Kleinigkeiten verraten dich. Du wünschst dir solche Sachen, die andere für selbstverständlich halten würden." Er brachte ein trauriges Lachen zustande, doch es verblasste schnell und Kjelds Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Du zitterst. Sag mir, Shaik, ist etwas passiert, während alle wegblieben? Oder ist dir nur kalt?"

Sie verstand nicht, ob er den letzten Satz ernst meinte, es war auch nebenbei zu dunkel, um Kjelds Gesicht vollständig sehen zu können. Dabei standen sie so dicht aneinander, dass sie seinen Atem an ihrer Stirn spüren konnte. Die Nächte in der perfekten Welt waren fast genauso warm wie die Tage. Doch auch wenn es nicht so wäre, hitzte Kjelds Körper zu sehr, um da noch frieren zu müssen.

„Ich werde dir alles auf dem Weg erzählen", entschied Anuk für sie beide. Sie würde genug Zeit haben, ihm alle Kleinigkeiten genauestens zu erklären. Von Anfang bis zum bitteren Ende. „Wir werden beim Sonnenaufgang aufbrechen müssen."

Er widersprach nicht, sondern lachte wieder, wirkte von ihrer plötzlichen Abenteuerlust gerührt. Kjeld musste keine Ahnung haben, wie ernst sie es meinte.

„Und wohin wird uns dann die Fortuna führen?", interessierte er sich mit einem leichten Grinsen.

„Auf die Waldlichtung", entgegnete sie freudig, als Kjeld ihr so kommentarlos entgegenkam. Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung, mit ihm ganz alleine durch die Landschaften zu wandern und nach dem Baum zu suchen, obwohl sie sich kaum sicher sein konnte, dass es diesen überhaupt gab.

Kjeld schien gar nicht zu sehen, wie ihre Iriden herrlich aufleuchteten und die noch kindlichen runden Wangen erröteten. Seine Augen, das Fenster zu seiner Seele, welches immer verschlossen zu sein schien, offenbarten ihr nun einen inneren Konflikt, einen Kampf, der in seinem Kopf vorging. Doch niemand, nur Kjeld selbst, wusste, wer sich da gegenüberstand und wie es ausgehen würde. Erst als Anuk ihre Worte zurücknehmen wollte, erklang die leise Stimme. Tief und nachdenklich.

„Es ist in Ordnung, Shaik. Morgen werde ich dich begleiten."

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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt