❀ Kapitel 16 - Die ersten Tränen

43 4 28
                                    

2019, unbekannter Tag, unbekannter Ort

Das Leben war nichts für Feiglinge. Das war Talita vor langer Zeit bewusst geworden  – viel früher als es ihr lieb gewesen wäre. Aber was war in dieser Hinsicht schon zeitig? Was war zu früh, wenn es ums Überleben ging? Ihre Mutter hatte Hirntumor niedergerafft und ihr Vater war seitdem nicht mehr derselbe. Es schien, als wäre es noch im anderen Leben gewesen, aber Tag- und Alpträume plagten sie auch hier, im scheinbaren Paradies. Eins wusste Talita besser als jeder andere: Für das Leben war man nie mutig genug. Nie stark genug. Nie perfekt genug.

„Bestimmt haben manche mitbekommen, dass heute jemand fehlt. Also, ich muss euch etwas erzählen", übernahm Leo das Wort beim Abendessen. Seine Stimme klang traurig, als ob er um Anuk trauern würde. Niemand würde je um Anuk trauern. „Obwohl ich das seltsame Gefühl nicht loswerde, dass es ohnehin schon jeder weiß."

Ein leichtes Schmunzeln stahl sich auf Talitas Lippen. Natürlich wusste jeder davon. Ihretwegen. Sie war nie in der Lage gewesen, leise zu sein, wenn sie etwas zu sagen hatte; wenn sie laut sein wollte.

„Die Karte, unsere letzte Hoffnung, wurde gestohlen und es gibt einen Beweis, dass es Anuk getan hatte. Ihr Eigentum wurde am Tatort gefunden." Stille und unbeeindruckte Blicke bedeuteten Leo, fortzufahren. „Da ich gerecht sein wollte, habe ich der Neuen eine Chance gegeben, aber sie hat diese nicht ausgenutzt. Jetzt ist es offiziell: Anuk ist aus unserer bescheidenen Gesellschaft verstoßen und darf sich nie wieder auf unserer Wiese blicken lassen." Weiterhin Stille und gelangweilte Gesichter. Wie sollte es auch anders sein? Sogar Vera hatte von „den Neuigkeiten" gewusst. Kjeld übernahm das Wort als Nächstes.

„Ich verstehe zwar nicht, welchen Grund Anuk gehabt haben sollte, die Karte zu stehlen, aber das Armband bei der großen Tanne hat die Wahrheit gesprochen. Ich bereue es, dass ich ihr vertraut habe." Der Hass in seiner Stimme war so intensiv, dass für zwei ganze Sekunden eine andere Stille einkehrte. Sie schien gefährlich zu sein. Tödlich.

„Moment mal ..." Talitas Gedanken wirbelten herum, prallten gegen die Wände und Decken ihres Verstandes, während sie verzweifelt versuchte, sie zu fassen. Nein, es konnte gar nicht sein. War ja möglich, dass Kjeld wusste, dass der Gegenstand ein Armband war, falls Anuk es ihm persönlich erzählt hatte, denn Talita selbst hatte nicht mehr preisgegeben, als dass die Inderin die Karte geklaut hatte. Aber ... „Woher zur Hölle weißt du, wo sich das Karten-Geheimversteck befunden hat?" Wo es doch nur Leo allein gewusst hatte. Wo er es nicht einmal ihr, seiner heimlichen festen Freundin, verraten hatte? Aber ein Blick zum Anführer genügte, um zu erkennen, dass er ebenfalls wenig Ahnung davon hatte, was hier gerade geschah. Oder auch andersrum. Dass er eben immer mehr vom Gesagten realisierte.

„Nun ... ich ... Es ist doch irgendwie offensichtlich?" Kjelds Gesichtsausdruck sagte alles. Er hatte die Augen geschockt aufgerissen, sein Atem wurde beinahe für jeden auf der Wiese hörbar. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er sich wieder beherrschte. Doch auch dies war genug gewesen, dass man sich ein Bild im Kopf hätte zusammenreimen können.

„Ich töte dich", knurrte Leo wie ein wildes Tier und ging auf Kjeld los. Er schmetterte dem Verräter seine Faust entgegen und Talita nahm wahr, wie die Kleinsten aufschrien. Aber auch die Spanierin erfüllte eine klebrige Angst. Nicht um Kjeld, sondern um Anuk. Sie war allein im Wald. Zurückgelassen von ihnen allen. Verraten und betrogen vom einstigen Vertrauten. Unschuldig.

Ein Rausch legte sich über ihre Ohren, sodass sie nur gedämpft Leos aufgebrachte Schreie vernahm. „Du hinterlistiger stinkender Idiot! Dieb! Mörder! Hast mit einem Mal alles gekillt, was uns etwas bedeutet hat! Ein Mädel für alles beschuldigt! Sie hat dir vertraut, verdammt nochmal! Ich habe dir vertraut! Ich schwöre, ich töte dich! Du wirst in deinem eigenen Dreck baden! Du hinterlistige Fuchsfresse!" Jedes imaginäre Ausrufezeichen wurde mit einem neuen Faustschlag begleitet. Kjeld winselte vor Schmerz, aber unternahm nichts. Er lag auf der Wiese, zusammengekauert wie das Armseligste, was Talita je gesehen hatte. Früher einmal war er stark gewesen. Viel stärker als jeder von ihnen. Aber nun erkannte die Hexe seine Stärke nicht mehr. Sie war verschwunden.

„Aufhören! Aufhören, sofort!", brüllte sie. Überrascht hielt Leo inne und ließ von Kjeld ab. Dieser röchelte, spie Blut aus. „Ihr werdet mir noch danken", sagte er. „Ihr werdet verstehen ... verstehen, dass wir nicht nach dem Ausgang suchen sollten. Dass wir hier sind, ist besser so."

Sein Auge war eingelaufen und blau, die Lippe aufgeplatzt und er blutete aus der Nase. Aber sie wandte sich ab von ihm, unfähig, auf sein Gesicht zu sehen. Vera weinte lauthals, Runa schluchzte. Niemand war gleichgültig geblieben. Sie fühlten sich alle ratlos; allein, obgleich sie zusammen waren.

„Du bist ein Monster." Ein bedrohlicher Unterton schwang in Leos Stimme mit. „Verschwinde."

Und er verschwand. In der Ferne wurde er irgendwann zu einem Schatten, dann nur noch zur Erinnerung. Der Wald verschlang ihn. Verschlang ihn so gerne, als wäre Kjeld schon immer ein Teil dessen gewesen.

Nun brachen alle in Tränen aus. Sie rollten auch Talita über die Wangen und es waren so viele, dass sie beinahe ertrank. Sie hatte keine Ahnung, wem nun zu trauen war in dieser Welt; was gut oder schlecht war. Es fühlte sich so an, als müsste sie alles wieder von vorn durchmachen, was sie eigentlich längst hinter sich gelassen hatte.

Leo umarmte sie. Er sagte nichts, aber sie spürte seine Präsenz mehr denn je. „Ich habe alles kaputtgemacht", wisperte sie. „Ich habe sie beleidigt und gehänselt. Ich habe ihr das Leben schwieriger gemacht und jetzt ..." Hysterisch wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht, spürte die Blicke all der anderen auf sich ruhen. Natürlich. Sie weinte ja. Sie zeigte Schwäche. Sie war ein Feigling. Das Leben war nämlich nichts für Feiglinge. „ ... Jetzt ist sie irgendwo dort draußen mit dem echten Verräter. Auf sich allein gestellt."

"

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: May 26 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt