Der Himmel gebar sein erstes Abendrot. Es war Feuer und Blut zugleich. Als würden sich die Flammen durch die Weite des Äthers fressen und seinen roten Saft über der Welt verteilen. Damit alle sehen konnten, dass es von nun an vorbei war mit Frieden, da sich der verletzte Himmel jederzeit auf sie hinabstürzen könnte.
„Wenn das alles wahr ist, dann sollten wir besser Angst haben."
„Der Tod den Oberen!"
„Wir hätten auf Anuk hören sollen, als uns noch Zeit blieb!"
Es schmeichelte ihr, dass sie das eine Mal Recht behalten hatte. Es gab ihr Mut, doch auch Entsetzen. Lieber wäre es ihr, wenn sich alles anders ergeben hätte. In Cherrapunji war der Tod kein seltener Gast, dennoch nur wenig Gesprächsthema. Viele schwiegen lieber über ihr Unglück, als würde das Erwähnen dessen ein weiteres heraufbeschwören.
Allerdings verließ das Thema Tod nie die Köpfe der Leute, auch Anuks nicht. Der Gedanke, oftmals sogar der Wille, zu sterben, brannte ihnen ständig im Schädel und hinterließ mit der Zeit seine Frucht.
Anuk hatte dem Tod schon oft genug ins Gesicht gespuckt, häufig auf der Grenze zwischen ihm und dem Leben balanciert und war jedes Mal davongekommen. Doch diesmal war etwas anders. Es war die Unwissenheit, wie und wann er kommen würde und wen er sich als Erstes nehmen würde. Es könnte auch sie sein.Noch ist nichts entschieden. Das hatte ihr Evans zugeflüstert, als sie sich völlig am Ende gemeint hatte.
Anuks stechender Blick glitt über die Köpfe der Dreizehn hinweg, die noch immer nutzlose Tür zum pechschwarzen D. Ist es denn jetzt entschieden?„Ich schlage vor, wir sammeln Vorschläge zu unserer Vorgehensweise." In Leos Stimme schwang eine Note Besorgnis mit. Anuk konnte es nicht verhindern, dass sich ihre Lippen ganz kurz, für lediglich einen Augenblick, zum Schmunzeln verzogen. Gestern hatte Leo noch zur Ruhe gebeten. Heute war alles anders.
„Vorschläge?" Vor Zorn wurde Kjeld immer lauter. Die Menge trat vor ihm zurück, eingeschüchtert von der einzigen Person, die es je gewagt hatte, Leo zu widersprechen. „Ich bitte euch, was gibt es da noch zu besprechen? Seht ihr denn nicht, dass uns zu wenig Zeit für sinnlose Worte bleibt? Das Einzige, was wir noch machen können, ist den Schlüssel für die weiße Tür zu finden, noch bevor uns der Tod holen würde. Oder will jemand immer noch Anuks Aufrichtigkeit infrage stellen? Nun gut, ich höre zu, sprecht!"
Doch keiner wagte es, die Anspannung zu steigern, welche Anuk in der bedrückenden Stille zwischen ihren aufgeregten Atemzügen fand. Nicht einmal Talita, die vor Anuk kurz das Haupt senkte, als ihre ernsten Blicke aufeinandertrafen. Die Hexe hatte ihr recht gegeben.
„Okay, dann soll es wohl so sein. Wir werden diesen Abend jedoch nutzen, damit jeder nochmal in Ruhe den Tagebucheintrag durchlesen und sich die Karte angucken kann, bevor wir morgen aufbrechen. Außerdem sollte sich jeder nochmal ausruhen und etwas zu Abend essen. Geht das klar?"
Anuks Magen sprach seine Zustimmung vor ihr selbst aus. Sie hatte, seitdem der Morgen angebrochen war, keinen Brotkrümel im Mund gehabt. Überdies schmerzte ihr Kopf nach der stundenlangen Diskussion, die die Dreizehn bezüglich des Ds und ihrer Funde geführt hatten. Zu ihrem Wohlgefallen stimmten auch andere Leo zu, sodass sich alle schon gleich auf den Weg zum Lager machten.
Seit sie das D an der Wand entdeckt hatten, schien alles in Chaos ausgebrochen zu sein. Der Himmel, das Gras, der Wald, die Schmetterlinge, sowohl der See wirkten feindseliger als je zuvor. Bäume, die aus der Erde empor ragten, streckten die kargen Äste nach ihnen aus, wie Untote ihre knochigen Finger. Die Schmetterlinge schienen ebenso die Ähnlichkeit mit den schönen Insekten verloren zu haben. Man sah nur noch ihre Makel, wie die zu weiten Flügel oder unpassenden Farben.
Der See, einst glänzend und klar, hatte einen seltsam farbigen Glanz bekommen. Es war ein recht dreckiger Ton, etwas zwischen Sepia und Moosgrau.Die größte Veränderung hatten jedoch die Zwölf durchmachen müssen, Kjeld und Anuk nicht mitgezählt. Sogar die schlauesten von ihnen hatten nichts gesehen wie blinde Welpen. Erst mit dem Aufbruch der Spiele schien sie die Augen endlich geöffnet zu haben. Anuk betete, dass es noch nicht allzu spät war, da keiner wusste, wie schnell die Spiele voranschreiten würden und wann der nächste Buchstabe schon kam. Niemand hatte eine Ahnung. Alle waren ratlos.
Doch das Unheil machte sie zu einer Einheit. Und Anuk merkte allmählich, dass die vierzehn alleinstehenden Hunde zu einem echten Rudel geworden waren. Es war wie mit Kjeld, nur viel intensiver - das gleiche Ziel vereinte sie, machte Gegner zu Gesellen. Es war das wahre Glück, was nur durch Unglück bestehen konnte.
„Anuk!" Die kleine Russin, Vera, holte sie ein und hielt zu ihr Schritt. Sie griff nach Anuks Ärmel und zog an diesem, um auf sich aufmerksam zu machen. Bewunderung leuchtete in ihren himmelblauen Augen, doch Anuk konnte die Erinnerung nicht loswerden, wie anstelle dessen in denselben Angst und Misstrauen verweilten. „Wirst du uns retten?"
Überwältigt konnte Anuk nicht anders, als auf der Stelle zu stoppen und die Kleine verwundert anzusehen. Das Leuchten ihrer Haare überstrahlte das der Sonne und die Augen strahlten noch heller als der wolkenlose Himmel. Anuk erinnerte sich, wie andere das Mädchen genannt hatten. Der Engel.
„Warum ... sollte ich euch denn retten?", fragte die Inderin. Die Frage klang viel schroffer als gewollt. Wenn man sie falsch deutete, könnte sie gar noch schärfer erscheinen, als präzise geschliffene Klingen. Es war keine Absicht und doch konnte Anuk bei solchen Fragen nicht anders, sei es auch ein kleines Kind, das diese stellte. Doch Vera schien das Abweisende in ihren Worten nicht wahrgenommen zu haben.
„Weil der Tod naht und das Böse seine Klauen bald nach uns ausstrecken würde!" Anuk konnte sich nicht sicher sein, ob Vera nicht vielleicht zitierte, doch im Moment war es nicht weiter wichtig. „Kjeld hat gesagt, du seist die gute Heldin und rettest uns, auch wenn man das Gefühl nicht loswird, dass es keine Rettung mehr gibt. Stimmt das, Anuk? Bitte, verspreche mir, dass das stimmt!"
Und das sollte Kjeld gesagt haben? Dass sie ein Held war und alles allein regeln könnte? Unter anderen Umständen wäre ihr die Röte ins Gesicht gestiegen, sobald sie nur seinen Namen gehört hätte, doch nun war es viel mehr Wut, die sie zu spüren bekam. Wie sollte sie nun der Kleinen erklären, dass sie es einfach nicht konnte? Dass sie nicht gut genug dafür war?
„Engel nennt man dich doch, stimmt das?" Sie wartete das kurze Nicken ab, ehe sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Dann hör her, kleiner Engel. Niemand, ja, nicht einmal Kjeld, weiß, was der morgige Tag bringen würde. Es könnte auch sein, dass jemand anderes euch beschützen muss oder ihr einander. Es könnte sein, dass ich allein zu wenig bin. Auch Helden können scheitern."
Doch egal, was Anuk sagte, der Engel schien aus dem Gesagten nur das herauszuhören, was sie selbst wollte.„Aber du bist ein besonderer Held, du wirst nicht scheitern, stimmt's? Versprichst du mir, dass das stimmt?" Darauf konnte Anuk nur seufzend nicken. Es würde ihr Herz zum Bluten bringen, wenn sie Vera enttäuscht sehen würde. Immerhin würde es keinen großen Unterschied machen, wenn zumindest einer unter ihnen einen Schein an Hoffnung bekam. Aber es bedeutete auch, dass Anuk ihr Bestes geben musste, denn der Kleinen diesen zu nehmen wäre purer Egoismus.
𓃦
Diese Nacht wurde Anuk von Alpträumen geplagt.
Dunkle Schatten, die Dämonen, suchten sie in ihrem Schlaf heim, sie kämpften gegen Engel mit strahlend blauen Augen und dem Haar, so leuchtend wie flüssiges Gold. Sie selbst, Anuk, siechte in einer dunklen Höhle dahin, während die Engel mit den großen Schmetterlingsflügeln nach ihr riefen: „Anuk! Du bist doch unsere Heldin! Warum hilfst du nicht? Du hast es uns versprochen!"
Und über dem Ganzen schwoll der Sonnenuntergang an. Rot wie Feuer und Blut.
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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝
Fantasy𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐩𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐯𝐨𝐥𝐥𝐞𝐫 𝐋𝐮̈𝐠𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐀𝐧𝐠𝐬𝐭. 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐳𝐰𝐚𝐧𝐠𝐡𝐚𝐟𝐭𝐞 𝐖𝐚𝐡𝐥 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐫𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠. 𝐕𝐢𝐞𝐫𝐳𝐞𝐡𝐧 𝐊𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐞𝐫 𝐒𝐮𝐜𝐡𝐞 𝐧𝐚𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐞𝐦 𝐍𝐚...