❀ Kapitel 3 - Die gefälschte Realität

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Sie erblindete beinahe, so übertrieben grell leuchtete das Grün unter ihren Füßen, ebenso wie die Kronen der Bäume, welche sich so sehr in die Höhe streckten, als würden sie mit ihren Ästen den pastellblauen Himmel stützen. Ein Orchester spielte Melodien: Das Zirpen der Grillen im Einklang mit Vogelgesang und dem Rauschen der Blätter in der leichten Brise. Das Motiv des Friedens in Anuks Augen. Besser, als sie es sich je hätte vorstellen können. Noch friedlicher. Noch harmonischer. Reine Idylle.

In der Ferne zeichnete sich ein See ab. Sein glasklares Wasser spiegelte die Wolken wider, die wie Schafe lahm über den Himmel zogen, während die Sonne mit ihrem auffälligen Grellgelb ihnen den Weg beleuchtete. Ein Nadelduft stieg ihr in die Nase und sie fragte sich aufgewühlt, wie etwas perfekt sein und sich gleichzeitig so falsch anfühlen konnte. Denn egal wie schön es war: die Warnung an der Wand und die Dämonen erzählten eine komplett andere Geschichte. Sie durfte nicht den Kopf verlieren, denn dies könnte ihren Untergang bedeuten.

Aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie Leo bei all dem die Stirn runzelte. Wie schwer sich sein Brustkorb mit jedem Atemzug erhob. Wie jede Zelle seines Körpers angespannt blieb, als befände er sich mitten in einer Hölle.

„Das hier ist nichts Großes, Anuk. Es ist nichts, was deine Aufmerksamkeit wert ist. Es gibt kaum etwas ... das genauso ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Täuschung und Lügen: Dies sind Dinge, die es immer geben wird."

Sie nickte zögernd, obwohl der Sinn seiner Worte für sie noch immer ein Geheimnis blieb. Sie fragte nicht nach, wollte so wenige Umstände wie möglich machen, denn Leo kam wie eine Mine rüber, die jeden Moment explodieren könnte.

Daneben wurde ihr ohnehin schon längst eingeredet, sie sei zu jung, um alle Sachen der Welt richtig deuten zu können; aber schon erwachsen genug, um sich um die Familie zu kümmern. Aus dem Grunde lebte sie teilweise in der Unwissenheit, hatte nie den Hauch einer Ahnung, worüber ältere Menschen sprachen. Im Allgemeinen konnte man sagen, dass sie keineswegs gesellig war. Und wenn sie redete, machte sie es ganz leise und sanft. Sie wollte nichts provozieren. Weil sie es verabscheute, Verantwortung für jedes ihrer gesprochenen Wörter zu tragen.

„Das ist auch nicht mehr weiter wichtig, nur, dass du es immer im Hinterkopf behältst", fügte Leo hinzu. Es wirkte beinahe schon so, als hätte er diese ganzen Phrasen stundenlang vor einem Spiegel geübt, „Wollen wir weiter?"

„Wohin?", fragte sie milde nach und versuchte, die genervte Note in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie wunderte sich, woher der Mut gekommen war, doch konnte es vage erahnen. Leo kommandierte sie herum, erkundigte sich nicht, ob sie etwas wissen wollte, denn genau das war es, was sie bräuchte. Bisher hatte er ihr nur eine Antwort gegeben und diese hatte sie kaum schlauer gemacht, als sie zuvor gewesen war. Womöglich hatte es sogar Vorteile, dass sie ganz kurz von ihren Sitten abgewichen war. Noch wussten es nur die Götter.

„Zu den anderen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du als einzige von Emir fotografiert wurdest. Nun sind wir vierzehn." 

Vierzehn. Es war eine große Zahl in jeder Hinsicht. Anuk benutzte sie selten. Bisher hatte es eben keine Möglichkeit dazu gegeben.

„Wir sind vierzehn", flüsterte sie begeistert. Es klang stark. Dieses „wir".

„Nun komm schon. Die anderen warten."

Er führte sie den linken Pfad entlang. Schweigend folgte sie ihm, obwohl sie keine Lust hatte zu gehen. Es schien, als würde ihr vergangenes Leben endgültig zur Erinnerung werden, sobald sie diesen Ort verließ. Nur einmal drehte sie sich um und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass der weiße Raum nirgends zu finden war. Er war verschwunden. Aber sie sagte kein Wort zu Leo. Sie wüsste nicht, warum sie den Mund aufmachen sollte, da er ihr sowieso nicht zuhören würde. Es war besser zu warten. Die Zeit ganz allein würde ihr die Fragen beantworten.

𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt