❀ Kapitel 8 - Der schlaue Fuchs

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Erst, als sich die ersten Sterne über die Himmelskuppel verteilten, stand sie von der Erde auf. Sie hatte bereits all ihre Tränen geweint, aber sie meinte immer noch, dass es zu wenige gewesen waren, um all ihren Kummer zu lindern.
Sie war wieder allein geblieben. Im Grund war sie es immer, auch unter den Menschen. Wenn sie sah, wie sie einander anschauten und zusammen lachten, wenn sie redeten und sich dabei Komplimente schenkten. Sie fühlte sich so verdammt einsam! So überflüssig.

Der volle Mond warf sein Licht auf das Zimmer, gespenstisch glänzte in der Dämmerung die bleiche Klinke. Düster und geheimnisvoll war diese Welt nachts. Anuk schlich zum Zimmer, beäugte misstrauisch die verschlossene Tür, während ihr Herz schmerzhaft gegen die Rippen schlug. Es explodierte und regenerierte sich wieder binnen Sekunden, fuhr mit seinem wilden Klopfen fort. Etwas verspätet realisierte Anuk, dass sie doch nicht allein war. Neben Ängsten, die sie ihr Leben lang verfolgten, gab es noch die Probleme, welche sich mit jeder Minute vermehrten. Es waren ihre Feinde, Geister, die auf ewig ihr Gesellschaft leisten würden. Gegen ihren Willen.

Sie starrte vor sich hin, ihr Blick glitt ein wenig runter und verharrte auf einem Schlüsselloch. Da war sie. Ihre Rettung. Zumindest irgendein Anfang. Ein Schlüsselloch bedeutete, dass es irgendwo einen Schlüssel gab. Und sie würde ihn finden, denn sie hatte keine andere Wahl.
Wenn sie zu feige war, um die anderen überreden zu können, musste sie allein handeln. Sie brauchte Leo und seine Leute gar nicht, nicht einmal Kjeld brauchte sie. Bei dem letzten Namen gebärte ihre Brust einen leichten, ziehenden Schmerz. Sie schüttelte müde den Kopf und stützte sich an der Wand ab. Dort stand sie etwa zwei Minuten lang, als ihre Sicht verschwamm und sie schreiend auf die Knie fiel.

„Seherin."

Der Ruf hallte durch die Gegend, füllte die trostlose Stille.

„Seherin."

Als sie klein gewesen war, hatte sie oft und gern Verstecken gespielt. Damals hatte sie ständig gedacht, man würde nicht entdeckt werden, wenn man die Handflächen vors Gesicht hielt, sodass man selbst nichts als Schwärze zu sehen bekam. So kauerte sie weiter da, hoffte, dass der simple Trick funktionieren würde.

„Hör her, Seherin, wir haben nicht viel Zeit." Es klang tief und beruhigend. Durch die Lücke zwischen ihren Fingern musterte sie den Platz. Gleich schon nahm sie die Hände ab.

Anuk fand sich im Wald wieder. Wie konnte das sein? Verblüfft betrachtete sie die Bäume, die sich wie riesige grüne Perlen aneinander reihten. Das Gras unter ihr war nass vor Tau und doch hatte sich die Nässe nicht auf ihre ausgefranste Hose übertragen.
Anuk staunte, als sie ein rotes Tierchen vor sich hocken fand. Die weiße Schwanzspitze ruhte neben den eleganten Pfoten und zuckte gleich bei einer Katze. Die Augen, so grün wie das Laub der Kronen, strahlten Ruhe und Weisheit aus, alles, was Anuk nie zuvor kennenlernen durfte.

„Wer bist du? Ein Dämon?"

Der Fuchs lachte, wobei seine spitzen Zähne wie winzige Sterne aufblinzelten.

„Ich bin ein Hüter. Die Drider, die du komischerweise für Dämonen hältst, werden dich aber irgendwann auch sprechen wollen. Es ist allein deine Entscheidung, wessen Hilfe du wählst."

Kräftig drückte sie die Zähne zusammen. Sie musste sich mal wieder entscheiden! Wieso nur? War ihre Meinung etwa so wichtig?
Sie sah zu ihm rüber, doch das Tier rührte sich nicht von der Stelle, es saß wie eine Statue da und betrachtete sie mit offenem Desinteresse. Der Fuchs war klein. Doch für ihn war sie kaum wichtiger als eine Mücke.

„Wo bin ich? Was willst du von mir, Hüter?" Sie umschlang die Knie mit ihren Armen, flink machte sie sich klein und unscheinbar. Es war ihre Angewohnheit.

„Du bist eine Seherin, daher ist es eine Vision. Es ist nichts, was ich von dir will. Es ist vielmehr so, dass du mich brauchst."

„Ich brauche dich?" Sie zog das letzte Wort absichtlich in die Länge, um ihr ganzes Misstrauen und Zweifel ihm gegenüber zu betonen. Anuk verzerrte ihr Gesicht: Die Lippen presste sie fest aneinander und ließ die Brauen sich an der Nasenwurzel treffen. War es tatsächlich so weit gegangen, dass sie die Hilfe eines Tieres brauchte? Dass ein Fuchs über ihr auf der Nahrungskette stand?

„Du wirst schon merken, wie sehr du mich brauchst. Du wirst nicht einschlafen können, ohne mal an mich zu denken. Du wirst besessen von mir sein, gar süchtig nach mir. Denn dein Leben und die der anderen werden von mir abhängen. Doch am Leben zu bleiben ist nun mal ein großes Privileg." Er sprach so, als ob dies so sicher war, wie dass er vier Pfoten und feuriges Fell hatte, als ob das, was er sagte, schon so gut wie geschehen war.
„Wozu ich dich eigentlich hergeholt habe, ist, dass der Anfang der Spiele bereits vor der Tür steht. Oh, ich sehe, die Drider haben es dir schon verraten, habe ich recht?" Sie nickte. „Hier mein erster Hinweis: Finde den Baum mit dem Loch. Dort findest du die Karte und noch etwas, was dir als Hilfe dienen könnte."

Sie bekam den Sinn seiner Worte kaum mit, denn ein Schwindel machte sich in ihrem Schädel breit. Die Sicht verschwamm ein wenig und vor Koordinationsschwierigkeiten fiel sie rückwärts auf die Wiese, schaffte es gerade noch, sich mit ihren Ellbogen abzustützen.

Kurz rief etwas ein Bild in ihrem Kopf auf. Der blühende Baum mit auffälliger, saftig grüner Krone breitete seine Arm über die Lichtung aus. Seine Finger, die dünnen Zweige, sehnten sich nach der Sonne und streckten sich zu ihr, verdeckten sie somit von anderen Pflanzen, die sie liebkosten wollte. Die Gier des Baumes nach den Sonnenstrahlen fand kein Ende, sogar die Blumen drumherum küssten fast schon die feuchte Erde.

„Finde den Baum", hörte sie das letzte Mal und fiel ins Nirgendwo.

„Finde den Baum", hörte sie das letzte Mal und fiel ins Nirgendwo

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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt