Der See lag vor ihr, reflektierte die Sonnenstrahlen wider, sodass das Wasser blendend glänzte. Hier, an dem Ufer, kam in einem das Gefühl auf, es sei ein See aus goldenem Licht, ein Ursprung und das Ende zahlreicher Märchen.
„Warum sind wir hergekommen?" Anuk wandte sich Kjeld zu und beäugte nachdenklich sein äußeres Erscheinungsbild. Wenn das hier ein Märchen sein sollte, dann war er wohl eher ein Schurke, als ein Märchenprinz. Auf seinen Lippen ruhte ein freches Schmunzeln, der Blick war auf die Oberfläche gewandt. Er schaute sich genauestens den Grund an, welcher sich in dem glasklaren Wasser abzeichnete.
Kjelds Beine bohrten sich in den Boden, gleich den Wurzeln einer Linde. Und Anuk dachte sich im Moment, dass wohl kein stärkster Wind der Welt ihn von seinem Wege zwingen könnte. Evans musste immer wissen, was er tat und wohin er ging. An diesen Menschen sollte man sich festhalten, denn wenn man selbst unterging, konnte man sich noch rechtzeitig hochziehen und retten.
„Manchmal fühle ich mich unter Menschen überflüssig, und wenn ich hierherkomme, kann ich mit mir allein sein. Zumal unser Gespräch im Moment keine zusätzlichen Ohren braucht." Er hielt kurz inne, ehe er sich schlussendlich zu Anuk drehte. „Schau auf das Wasser und versuche, etwas zu erkennen."
Sie bemühte sich darum, seine Erwartungen zu erfüllen, da sie doch so sehr wollte, dass er zufrieden mit ihr war. Als sie auf die Oberfläche niedersah, starrten ihr ihre dunklen Augen entgegen. Ihre schwarzen Strähnen umrundeten in Wellen das schmale Gesicht, sie harmonierten sehr mit ihrer gebräunten Haut und den langen schwarzen Wimpern.
„Schau genauer hin. Fällt dir etwas auf?"
Sie runzelte konzentriert die Stirn, betrachtete jede ihrer Körperzellen. Am Anfang war es schwer, da sie nie zuvor ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte, doch dann fielen ihr Dinge auf, die sie aus ihren Erinnerungen und Vorstellungen hervorrief.
„Meine Haare schau'n ganz sauber aus. Ah, und die Narbe von meiner Straßenkatze Jiji ist weg."
Die Narbe sollte ganz frisch sein und auffallen. Anuk hatte sie damals oft mit den Fingerspitzen berührt und dessen Kontur nachgefahren. Ihre Mutter hatte immer gemeint, sie sähe damit aus wie eine echte Kriegerin. Es war jedoch eher Trost als Wahrheit gewesen. All die anderen hatten es schrecklich gefunden.
„Richtig erkannt. Du bist die Zweite nach mir, die drauf kommt. Alles, was uns nur annähernd abstoßend machte, seien es Narben, Pickel, Warzen, zu lange Hände oder krumme Nasen, wurde verändert. Wie und warum, wissen nur die Oberen. Mir kommt sonst niemand in den Sinn, der so etwas mit uns anstellen könnte."
Deswegen schauten also alle hier so hübsch aus! Es waren nicht ihre echten Gesichter, unter denen sie sich hier befanden. Die Jugendlichen wurden der Welt angepasst. Sie waren alle genauso perfekt – auf den ersten Blick. Doch es war nicht das, was Anuk eigentlich wissen wollte.
„Warum sind wir aber hier?"
„Ich habe mehrere Leute befragt. Nach ihrem früheren Leben, weißt du?" Kjeld räusperte sich und rieb sich kurz über seinen Nacken. „Es waren zwei, die mir eine Antwort gegeben haben: Vera, die achtjährige Blondine und Runa, das Mädchen mit den zwei Zöpfen." Er schwieg kurz, als ob ihm das Thema unangenehm wäre. Anuk hatte Evans bisher noch nicht so unsicher gesehen.
„Und?" Vor Neugier und Ungeduld hielt sie den Atem an. Sie spürte mit all ihren Sinnen, dass Kjeld ihr etwas Wichtiges anvertrauen wollte. Etwas, was über Menschenleben entschied. Und Anuk war bereit die Information, egal was genau es war, wie ein Schwamm aufzusaugen.
„Vera wurde gemobbt, Runa ist ein Waisenkind. Es ist ganz gleich, wie unterschiedlich wir alle sind und welche Vergangenheit wir haben, uns alle verbindet etwas." Er schwieg absichtlich in der Hoffnung, dass Anuk selber verstehen würde, worauf er hinaus wollte. Doch egal wie lange sie nachgrübelte, sie bekam kein Ergebnis raus. Anuk spürte, dass sich die Lösung nah dran befand. Sie musste nur ihre Hand ausstrecken, um diese zu berühren. Doch es fehlte lediglich ein Zentimeter, um dies tun zu können.
„Ich habe keine Ahnung, ich ... ich versteh's nicht. Vielleicht bin ich einfach nicht die Richtige, vielleicht ..."
„Du machst es schon wieder, Shaik", unterbrach er sie seelenruhig, „Du solltest deine Selbstzweifel sein lassen und mit der Dame gehen, anstatt dich zu verteidigen." Und schon redete er wieder von Schach. Anuk wurde nicht schlau aus ihm. Ab und zu sprach er Klartext, doch sollte das Thema des Brettspiels angerührt werden, wurde es wieder ernst. Vielleicht wollte Evans sie zu etwas anderem machen? Zu etwas Mutigen und Größeren? Ja, so musste es sein. Es nervte ihn sicherlich, dass sie ein verlorener Welpe war. Doch war es möglich, aus einer wie ihr etwas rauszuholen? Gegen ihre Bestimmung anzukämpfen?
„Sage mir bitte, was genau du meinst." Ihre Stimme zitterte nervös. Sie hatte weder Lust, weiterhin über Kjelds Verhalten nachzudenken, noch sich den Kopf dabei zu zerbrechen, was er damit erreichen wollte. Es störte Anuk allmählich, dass sie Kjelds Frage sofort beantwortet hatte, wobei Evans sie wieder belehrte. Ihr war es noch nie eingefallen, dass sie unfair behandelt oder aufgezogen wurde. Erst jetzt verstand sie, wo Fairness anfing und wo sie aufhörte.
„Wir hatten alle eine schwere Vergangenheit, Shaik. Das kann kein Zufall sein", entgegnete der Engländer seufzend.
„Du meinst, die Oberen ..."
„Ja, wer auch immer die Oberen sind, sie suchen sich nur die unglücklichen Jugendlichen aus. Diejenigen, die unzufrieden mit ihrem Leben sind. Sie verbessern ihr Aussehen und alles, was sie schlechter macht als die anderen. Dann kommen sie hierher."
„Aber was bedeutet das nun? Warum sind wir hier? Was wollen sie von uns? Und was ist mit unseren Eltern, erinnern sie sich noch an uns?"
Nachdenklich schaute Kjeld ins kristallklare Wasser auf sein eigenes Spiegelbild. Er suchte nach den passenden Worten. Es schien wichtig für ihn zu sein, all seine Erwartungen auf den Punkt zu bringen.
„Das kann ich dir nicht sagen, Shaik. Doch ich werde keine Ruhe finden, bis ich nicht alles weiß. Es scheint mir, als würdest du das gleiche Ziel verfolgen, richtig? Möglicherweise sollten wir zusammenhalten, was hältst du davon, Shaik?"
Überrascht starrte sie ihn an, wandte ihren Blick auf den See und wieder zu ihm. Die Inderin war fassungslos, denn so etwas war das Letzte, was sie erwartet hätte. Und wieder verstand sie ihn nicht. Wie konnte sie ihm helfen und was meinte er aus ihr rausholen zu können? Anuk war sich nicht einmal sicher, ob sie das gleiche Ziel verfolgte, da es absolut nichts an Kjeld gab, womit sie sich sicher war.
„Glaubst du es mir denn, wenn ich sage, dass ich komische Stimmen höre? Dämonen?" Sie atmete hörbar ein: Seine Antwort würde entscheidend sein.
„Hätte ich dir sonst Zusammenarbeit angeboten, wenn ich dir nicht vertraut hätte? Aber davon kannst du mir ja vielleicht später mehr erzählen." Er wirkte nicht einmal im Geringsten interessiert ... Doch nun musste sie sich entscheiden.
Anuk wickelte nachdenklich eine ihrer dunklen Haarsträhnen an den Finger. Bei Gott, sie hasste es, sich entscheiden zu müssen! Viel lieber überließ sie Entscheidungen anderen. Jetzt gab es aber nur noch sie und Kjeld.Schließlich meinte sie, auf den richtigen Entschluss gekommen zu sein. Was hatte Anuk schon zu verlieren, wenn sie ohnehin nichts hatte? Klar, Kjeld Evans war unberechenbar und nur schwer zu durchschauen. Aber nun brauchte sie mehr denn je jemanden um sich.
Sie öffnete sachte ihre Lippen, um die endgültige Entscheidung mitzuteilen, allerdings übertönte ein lauter Ruf die Worte, der im nächsten Moment durch die Luft hallte.
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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝
Fantasy𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐩𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐯𝐨𝐥𝐥𝐞𝐫 𝐋𝐮̈𝐠𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐀𝐧𝐠𝐬𝐭. 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐳𝐰𝐚𝐧𝐠𝐡𝐚𝐟𝐭𝐞 𝐖𝐚𝐡𝐥 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐫𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠. 𝐕𝐢𝐞𝐫𝐳𝐞𝐡𝐧 𝐊𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐞𝐫 𝐒𝐮𝐜𝐡𝐞 𝐧𝐚𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐞𝐦 𝐍𝐚...