Anuk merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur ihre innere Stimme verriet es ihr, sondern auch die Art, wie langsam Siti ihre Schritte auf das saftig grüne Gras setzte. Als würde sie die Zeit in die Länge ziehen wollen. Als würde sie etwas im Sinn haben. Etwas weniger Gutes für Anuk.
Sie blieben neben den Brombeerbüschen stehen, ganz wie es damals mit Leo geschehen war. Es kam ihr vor, als wäre es noch im anderen Leben gewesen. Die kleinen dunklen Beeren leuchteten diesmal nur etwas heller als sonst; sie sahen aus wie winzige Sterne zwischen der dichten Blattpracht der Büsche.
Ihr Blick landete wieder auf Siti. Ihr dichtes aschbraunes Haar fiel ihr im sanften Wasserfall bis zur schlanken Talie, als würde Siti eine Zauberin sein und ihre Mähne – ein Umhang. Ihr Körper befand sich noch in der Übergangsphase, ganz wie Anuks, doch er wirkte elegant und passend und jede Bewegung der Malaysierin war bedacht und gezielt.
„Warum eigentlich gibst du nicht auf, Anuk? Was hält dich zurück? Wieso glaubst du an irgendwelche Stimmen in deinem Kopf, die sonst keiner hört? Und auch wenn du zu feige dafür wärst ... wieso gehst du nicht fort? Du siehst doch, dass wir dich nicht brauchen! Du siehst doch, dass wir dein wahres Gesicht kennen! Oder mangelt es dir an Aufmerksamkeit? Ist es dir noch immer nicht genug?"
Nur durch ein Wunder blieben Anuks Augen trocken und das Herz gleichgültig. Die Inderin hatte die letzten Tage des Öfteren geweint: hatte Nächte damit verbracht, etliche Perlen zu vergießen. Sie hatte manchmal auf ihre Zunge gebissen, um nicht zu schreien; damit die Geräusche erstarben und nichts weiter zurückblieb als stumme Seufzer, ein ziehender Schmerz in ihrer Brust. Sie war abermals wie ein dummer, verlorener Welpe in eine Falle gelaufen, bloß weil sie geglaubt hatte, dort ein Zuhause zu finden.
Und doch ... war es für Siti Grund genug, mit Anuk unter vier Augen sprechen zu wollen? Warum diese Umstände? Vorsichtig erwiderte Anuk den scharfen Blick der Malaysierin. Sie fand Hass darin. Aber es schien, als wäre es nicht alles; als wäre er bloß oberflächlich. Tiefer erkannte sie so etwas wie Mitleid. Aber nur verborgen. Wie eine Muschel in den Tiefen der bodenlosen, stürmischen See.
„Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich zu den anderen", wisperte Anuk und starrte den Boden an. Das Gras war grün und hell und frisch. Es rauschte, flüsterte wie ein lebendiges Tier. „Du hast, denke ich, sowieso nichts weiter zu sagen, als das, was du für die Wahrheit hältst. Was ihr alle für die Wahrheit haltet." Kalt kehrte sie Siti den Rücken, ließ sie hinter sich; wie es jeder von ihnen mit ihr getan hatte. Sie hatte keine Kraft mehr, nett und höflich zu sein, hatte keine Kraft mehr, den anderen stets zu Füßen zu liegen, gleich einem alten, stinkenden Teppich. Ihr war bewusst, dass sie ein bisschen mehr wie Kjeld werden musste, um sich zu entspannen. Und allein das kostete Anuk alle Kraft der Welt.
Zurück bei Runa, Talita und Mailin, empfing sie ein durchdringendes Schweigen. Es lag über ihnen wie eine schwere Decke und ließ Anuk zittern, von einem Fuß nervös auf den anderen treten. Siti kam nach, nahm Platz Talita gegenüber.
„Setz dich und trink etwas, Anuk. Siehe, es gibt Milch", schlug die Hexe vor. Ihre Stimme war ein Singsang, wie Honig in der selben Milch, die sie ihr anbot. Zu nett. Viel viel zu nett für eine wie sie. Die Inderin schaute herab auf ihre Tasse, versuchte dort vergeblich einen Grund zu finden, das Trinken nicht zu sich zu nehmen.
Als sie verzweifelt ihren Blick hob, verhakte er sich mit dem von Runa. Trauer funkelte darin. Eine bodenlose Trauer, die unmenschlich wirkte – die Trauer des verlorenen Welpen, die Anuk bisher nur von sich selbst gekannt hatte.Sie waren ein und dieselbe. Anuk sah es. Sah es nicht nur im Blick, sondern im Verhalten Runas. Sie waren einander ein Spiegelbild, ein Doppelgänger, der ihr stets gezeigt hatte, wie lächerlich, bescheuert und doof sie rüberkam. Sie hatte es bloß nicht wahrhaben wollen.
Kaum merklich schüttelte Runa ihr Haupt.
Anuk riss überrascht die Lider auf, starrte mit gefälschter Interesse ein Gebüsch fernab der Wiese an. Talita sollte nicht bemerken, dass Runa ihr etwas verraten hatte. „Ich ... mir geht es übel. Tut mir leid, aber ich muss los." Fieberhaft sprang sie auf, stolperte benommen in Richtung der Heuhaufen. Ihre Hände fühlten sich schwer und fremd an, ihr Kopf war leergefegt und doch überfüllt. Sitis Worte spielten sich darin ab, immer und immer wieder aufs Neue, brachten sie zum Schluchzen: Du siehst doch, dass wir dich nicht brauchen! Du siehst doch, dass wir dein wahres Gesicht kennen!
Sie dachten wirklich, sie kannten Anuk. Dabei wusste sie ja selbst gar nicht, wer oder was sie war. Sie hatte keine Ahnung, was sie mochte oder hasste; was sie ausmachte. Wie konnten denn die anderen denken, sie gut genug zu kennen?
Ein Schleier von Tränen legte sich nun doch über Anuks Sicht. Ihr war nicht ganz klar, was in der Milch war oder wieso Siti sie sprechen wollte. Aber sie mochten Anuk nicht, verachteten sie, spielten ihr böse Tricks vor. Warum musste sie also noch bis Abend warten, wenn sie so unerwünscht war? Warum ging sie nicht einfach jetzt schon?
𓃦
„Ich dachte, es ist noch nicht Abend."
Anuk zuckte zurück und sah in die schwarzen Augen ihrer besten und einzigen Freundin. Erwischt, ging es ihr durch den Kopf, obwohl sie gerade nichts Verbotenes tat. Im Gegenteil – man wollte, dass sie ging.
„Tut mir leid, dass ich mich nicht verabschieden habe ..." Sie hatte sich schon zu oft verabschiedet. Vor Esha. Vor Liem. Vor Mani. „Was ... Was war in meiner Tasse heute?" Anuks Hände schwitzten, sie zerdrückte nervös das Sportmagazin, zu unvorbereitet auf die Antwort. Wollte sie das überhaupt wissen?
„Sie haben dir in dein Trinken gespuckt. Einfach so." Runa starrte den Boden an. Anuk schluckte. Spiegelbild. Und sie hatte sich abermals erkannt. „Gut, dass du nichts davon getrunken hast und auch gut, dass niemand gesehen hat, dass ich dir geholfen habe."
Die Inderin nickte und ließ nachdenklich ihren Blick schweifen. In mein Trinken gespuckt ... Nun, das war zu erwarten, oder nicht? Sie biss sich auf die Zunge, schmeckte Blut. Schon wieder, wie die letzten Tage auch. Natürlich war es das.„Möchtest du mitkommen?"
„Was? Wohin?"
„Fort."Anuk sammelte Mut aus den wenigen Puzzlestücken, die sie in den Tiefen ihrer Seele finden konnte. „Wir könnten allein sein. Allein gegen den Rest dieser ... dieser scheußlichen Welt!"
Runas Pupillen weiteten sich. Sie stolperte rückwärts, das Unverständnis im Blick. Niemand hatte ihr je angeboten, gegen die Regeln zu spielen. Niemand hatte die perfekte Welt je scheußlich genannt.„Nein. Ich kann nicht so wie du ..." Hektisch strich sich Runa eine Haarsträhne aus dem runden Gesicht, leckte sich über die Unterlippe. Dann hob sie ihren Blick. Er war leer. So leer, wie er noch bei ihrem ersten Treffen gewesen war. Nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig. „Ich kann nicht allein gegen alle."
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𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝
Fantasia𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐩𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐯𝐨𝐥𝐥𝐞𝐫 𝐋𝐮̈𝐠𝐞𝐧 𝐮𝐧𝐝 𝐀𝐧𝐠𝐬𝐭. 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐳𝐰𝐚𝐧𝐠𝐡𝐚𝐟𝐭𝐞 𝐖𝐚𝐡𝐥 𝐨𝐡𝐧𝐞 𝐫𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠. 𝐕𝐢𝐞𝐫𝐳𝐞𝐡𝐧 𝐊𝐢𝐧𝐝𝐞𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐞𝐫 𝐒𝐮𝐜𝐡𝐞 𝐧𝐚𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐞𝐦 𝐍𝐚...