❀ Kapitel 4 - Die gnadenlose Wahrheit

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Sie hockte neben Leo bei den Heuhaufen, sah zu, wie alle anderen sich auf seine Bitte sammelten. Er hatte gemeint, sie müsste vorgestellt werden. Er hatte gemeint, sie wäre wichtig genug dafür. Bestimmt hatte er gelogen. Doch jetzt war es egal.

„Das ist Anuk Shaik, unsere Neue. Seid nett zu ihr. Vergesst nie, dass wir nichts erreichen können, wenn wir einander zerstören."

Warum sagt er das?, fragte sie sich. Sie brauchte keine Aufmerksamkeit, kein Mitleid und keine misstrauischen Seitenblicke. Die Letzteren waren jedoch bereits vorhanden. Zwölf Augenpaare musterten sie von Kopf bis Fuß, sie meinte sogar zu spüren, wie diese Blicke beim Berühren ihres Körpers Brandwunden hinterließen. Eigentlich war sie doch längst daran gewöhnt. Eigentlich machte es ihr nichts aus. Und doch tat es ihr immer wieder aufs Neue weh, irgendwo tief im Herzen.

Eine unangenehme Stille übernahm die Macht über die Wiese. Bedrückt fragte sich Anuk immer wieder, ob es etwas mit ihrer Kleidung zu tun hatte. Ob es alle sprachlos machte, wie unanständig arm sie bekleidet war. Sie sah Gesichter, viele Gesichter, und es schien ihr, dass selbst die wenigen, die ihr ein Lächeln schenkten, nur Unterhaltung wollten und erhofften, dass sie zurücklächelte, nur um ihr die Zunge zu zeigen, oder sich mit einem frechen Grinsen auf den Lippen abzuwenden.

„Kjeld Evans aus England. Es freut mich, dich kennenzulernen."
Ihr erschrockener Blick huschte kurz zu der Person, die es gewagt hatte, das Schweigen zu unterbrechen. Als dieser auf Kjelds tiefes Blau traf, erstarrte sie. Sie vermutete, dass nicht einmal die tiefste See auf der Erde tiefer sein konnte. Sie ertrank darin.

Es kostete sie Mühe, sich wieder in den Griff zu bekommen. Für eine Sekunde hatte sie sich aber verloren. Für eine Sekunde, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte und doch zu kurz gewesen war.
Sie war genau da, wo sie saß und gleichzeitig gedanklich woanders, als die übrigen Kinder sich nacheinander vorstellten. Nur noch Fetzen vom Gesagten konnte sie aufnehmen, ohne sich nur ein einziges Gesicht zu merken.

„Mailin aus China." Mädchen mit seltsam dunklen Augen. Englisch mit leichtem Akzent.

„Lorik. Albaner." Älterer Junge mit schöner Stimme. Englisch. Starker Akzent.

„Talita Santos. Spanien." Zu Schlitzen zusammengekniffene, giftgrüne Augen. Leicht gebräunte Haut, die sie gut hervorhob. Wellige kastanienbraune Mähne. Einwandfreies Englisch. Teure Schuluniform. Sie war die Letzte, die sich vorgestellte und die Einzige, deren Bild sich in Anuks Kopf eingebrannt hatte.

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„Wir schlafen auf Heuhaufen. Die Mädchen in der Richtung", Leo deutete nach rechts und sie folgte seiner Geste.

Zuhause hatten sie keine Betten gehabt, Anuk hatte sich schon längst damit abgefunden, also war es gut. Sie musste sich deshalb nichts mehr neu angewöhnen.

Sie wusste nicht, wie spät es war, denn ihre innere Uhr war längst schon aus dem Takt geraten. So oder so war die Sonne fast gar nicht zu sehen. Die Dämmerung verschluckte die schwankenden Kronen der gewaltigen Baumriesen, samt der ganzen Schmetterlinge, die noch immer überall herum flatterten, als wäre es für sie üblich, keine Ruhe zu benötigen und rund um die Uhr wachsam zu sein. Die unnatürlichen Töne des Himmels leuchteten in Purpurrot, Karminblau und einem grellen Orange, sie passten prima zu den wilden Blumen, welche die Erde wie ein endloser Teppich bedeckten.

Wenn sie so genau hinsah, meinte sie schon fast, das wahre Gesicht der Natur vermissen zu müssen. Klar, in Cherrapunji war es längst nicht so schön. Dafür war es echt. Und diese Erkenntnis war aus irgendeinem Grund viel angenehmer als jene, dass es perfekt war.

Oft glänzt die Fälschung heller als der echte Diamant, erinnerte sie sich plötzlich an die Worte ihres Onkels Avan. Er hatte es häufig gesagt, bloß in einem anderen Kontext. Er hatte gemeint, dass wahre Schönheit nicht oberflächlich wäre, dass sie sich im Inneren befände. Es waren kleine und unscheinbare Dinge, die die Schönheit ausmachten. Es war so viel mehr als kunterbunte Schmetterlinge und die farbenfrohen Sonnenuntergänge. Vielleicht steckte sogar ein bisschen was davon im ständigen Regen ihrer Heimat und den so vertrauten durchnässten Straßen. Ganz genau konnte es Anuk noch nicht sagen. Nach dem heutigen Tag hatte sie ihre eigene Meinung zwischen den Lügen dieser Welt und deren Makellosigkeit verloren.

𝐓𝐡𝐞 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐜𝐭 𝐖𝐨𝐫𝐥𝐝Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt