𝟙𝟠. 𝔾𝕖𝕤𝕔𝕙𝕚𝕔𝕙𝕥𝕖𝕟 𝕒𝕦𝕤 𝕒𝕝𝕥𝕖𝕟 ℤ𝕖𝕚𝕥𝕖𝕟

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 »Hey, Michi, was ist los?«, fragte Maike mich später. »Du wirkst so abwesend.«

»Nichts, ich denke nur an den Fluch.« Meine Gedanken hingen an dem Abend fest, als Maike versucht hatte, zu flüchten.

»Du nicht auch noch«, stöhnte sie.

»Ich glaube daran, ja. Ich kann dir auch erzählen, warum.«

Ich blickte aus meinem Fenster. Draußen tauchte die untergehende Sonne alles in rötliches Licht, sodass die Welt wunderschön aussah.

»An dem Tag hatte die Sonne geschienen, doch am Abend waren Wolken aufgezogen. Der Himmel hatte sich verdüstert. Wir sind zu Oma und Opa gelaufen und es war so gruselig. Schon da hätte ich ahnen können, dass etwas Schreckliches passieren würde«, begann ich zu erzählen.

»Ich weiß, wie es war«, murrte Maike.

»Du kennst deine Version der Wahrheit, meine aber nicht. Ich erinnere mich an andere Details. Lass mich erzählen und hör mir einfach nur zu.«

Maike atmete hörbar ein, doch sie ließ mich reden.

»Oma hat uns aufgemacht, als wir geklingelt haben. Sie war sehr besorgt, hat mit den Händen herumgefuchtelt und war ganz durcheinander. Mom hat sich an ihr vorbeigedrängt und ist zu Opa gerannt. Er lag im Bett und war sehr schwach. Der Krankenwagen war schon auf dem Weg. Wir stellten uns neben seinem Bett auf. Er sagte, sein letzter Wunsch wäre, uns etwas aus seinem Leben zu erzählen und das Erste, was ihm einfiel, war eben -«

»Die Geschichte der Schwestern«, vollendete Maike den Satz. »Ich weiß.«

»Du kennst aber nicht den genauen Wortlaut.«

»Nicht genau, aber in etwa.« Maike räusperte sich, dann sprach sie mit verstellter Stimme, die nach unserem Opa klang, weiter. »Ich bin hocherfreut, dass ihr alle gekommen seid, um Abschied von mir zu nehmen, aber denket daran, es ist kein Abschied für immer. Ihr werdet mich im Herzen behalten und solange ihr auf dieser Erde weilet, wird eure Erinnerung an mich noch nicht verloren sein. Maike, komm her.«

Ich sah genau, wie Opa, gräulicher denn je, vor uns in seinem Bett unter einer dicken Decke gelegen hatte. Oma hatte das Bett mit einer Blümchenbettdecke bezogen, wie sie es heute immer noch für sich selbst tat, und für uns, wenn wir bei ihr übernachteten. Maike hatte ihn erschrocken angeblickt und war ängstlich nähergetreten. Opa hatte zu ihr immer eine ganz besondere Beziehung gepflegt.

»Du wirst mir früher wieder begegnen als die anderen«, imitierte ihn Maike.

»Wir dachten alle, dass er es nur metaphorisch meinte, weil er dich immer besonders stark mochte«, warf ich ein. »Mom hat dann gefragt, was er damit sagen wollte.«

»Genau.« Wieder nahm sie den Tonfall unseres Opas an. »Ihr kennt doch die Geschichte der Schwestern, oder habe ich sie euch noch nicht erzählt?«

Mom und Oma hatten genickt, Dad, Maike und ich hatten ihn nur verwirrt angeblickt.

»Mein Vater hatte eine Schwester. Er liebte sie sehr und hatte eine besonders starke Bindung zu ihr. Sie gingen gemeinsam durch dick und dünn und liebten sich sehr. Jeder sah sie nur zu zweit, sie lungerten überall herum, lachten so viel und stellten immer irgendwelchen Unsinn an. Am Tag ihres sechzehnten Geburtstags war sie schlecht gelaunt und freute sich kaum über ihre Geschenke. Sie blieb sehr still und schloss sich den ganzen Morgen über in ihrem Zimmer ein. Am Nachmittag saß sie auf einem Sessel und war sehr betrübt. Sie sprach mit niemandem, sondern schwieg nur und schaute aus dem Fenster in den düsteren Himmel hinein. Kurz vor Mitternacht sah mein Vater nach ihr und erschrak. Sie saß leblos in ihrem Sessel und war verstorben.«

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