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ICH WÜNSCHTE, ICH könnte behaupten, dass ich nur schlaue Entscheidungen traf. Dass ich so rational und bedacht war wie Kennedy, die immer nur das tat, was logisch war und keine schwerwiegenden Konsequenzen hatte, mit deren Nachwirkungen sie nicht klarkam. Es war eine Eigenschaft, die ich bitter beneidete und die ich ganz sicher nicht besaß.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich keine Ahnung, was mich dazu getrieben hatte, sein Profil anzuklicken. Ich wusste, dass es nicht gut für mich enden würde. Es war jedes Mal dasselbe Spiel. Alle paar Monate würde meine Neugier meine Wut überwältigen und meine Finger machten sich selbstständig, als sie über das Display meines Handys fuhren.

Normalerweise hielt ich diese Rückfälle für meine eigenen vier Wände reserviert, wenn ich wusste, dass Kennedy noch einen Spinningkurs hatte und erst in zwei Stunden verschwitzt durch den Türrahmen treten würde. Wenn ich wusste, dass ich nicht unter Menschen war. Und trotzdem hatte ich inmitten der Bibliothek auf dem Nordcampus nach meinem Handy gegriffen, als ich einen Artikel für einen meiner Pädagogikkurse über das väterliche Prinzip gelesen hatte.

Es hatte sich angefühlt, als würde ich mich aus meiner eigenen Haut schälen, wenn ich nicht sofort wusste, was er in den letzten Monaten getan hatte. Also hatte ich entgegen meinem gesunden Menschenverstand mein Handy entsperrt und meinen zweiten Instagram-Account geöffnet, den ich einzig und allein aus diesem Grund erstellt hatte. Mit meinem eigentlichen Account hatte ich ihn blockiert, denn wenn ich eins nicht wollte, dann dass er wusste, wie es mir ging, was ich tat, wo ich war. Es fühlte sich scheinheilig an, doch ich schuldete ihm nichts. Rein gar nichts.

Das wütende Kochen in meiner Magengegend verwandelte sich jedoch schnell in eisiges Blei, als ich seine neusten Bilder entdeckte. Die blonde Frau, die neben ihm in die Kamera lächelte, war definitiv nicht meine Mutter, und das kleine Mädchen, das er in seinen Armen hielt, war definitiv nicht ich.

Mir verschlug es beinahe den Atem zu sehen, wie groß sie mittlerweile war. Dass sie inzwischen bereits laufen und sprechen und tanzen und singen konnte. Dass sie ein tatsächliches, eigenständiges Wesen war, das er in die Welt gesetzt hatte. Und es fühlte sich falsch an, ihre blonden Locken zu sehen und ihre Stupsnase zu betrachten und Abscheu zu empfinden, weil etwas so Unschuldiges eine ganze Familie zerstört hatte.

Aber was viel schlimmer war als das selige Lächeln seiner neuen Frau und das laute Lachen seines Kinds, war die Tatsache, dass er tatsächlich glücklich aussah. Als würde er nichts missen, in seinem großen Haus, mit seinem großen Garten und seiner jungen Frau, die ihm eine junge Tochter geschenkt hatte, die wohl gut genug war, um zu vergessen, dass er das alles schon einmal gehabt hatte.

Ich scrollte durch die Bilder, verfolgte ihren Urlaub nach Costa Rica mit nur einem Tippen meines Daumens. Es fühlte sich beinahe an, als wäre ich dabei gewesen. Ich wollte lachen und weinen und schreien, denn ich war es nicht.

Es schien nicht fair. So ganz und gar nicht fair, dass er der Schuldige gewesen war und trotzdem keine bisschen Reue zeigte, während meine Mutter ihren Ehering noch immer in der Schublade ihres Nachttisches aufbewahrte, obwohl er bereits einen brandneuen trug. Einen, der ihn an seine neue Ehefrau band, bis dass der Tod sie schied. Oder eine weitere Affäre.

Als der Bildschirm unscharf wurde, legte ich mein Handy beiseite und fuhr mir mit den Handflächen über mein Gesicht. Ich wollte auf keinen Fall in der Bibliothek in einen Heulkrampf ausbrechen, wenn neben mir eine Lerngruppe über Wahrscheinlichkeitsrechnung und Logarithmen diskutierte. Aber ich spürte, dass ich die Tränen nicht mehr sonderlich lange zurückhalten können würde, nachdem das Bild der drei lächelnden Menschen, die mein Leben ruiniert hatten, sich in meine Bindehaut eingebrannt hatte.

all night long | ongoingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt