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Hanji war wieder verschwunden und ich legte mich wieder auf den Boden, der mir plötzlich wieder furchtbar kalt vorkam.
Auch das Prasseln des Feuers konnte meine innere Kälte nicht vertreiben.

Enzo war glücklich mit Kenny? Konnte das sein?
Ich versuchte es in meinen Kopf rein zu kriegen, doch ich schaffte es einfach nicht.

Levi tauchte neben mir auf, mit einer Flasche Wasser und als ich in seine Hand sah, entdeckte ich die Tablette, die ich gegen die Infektion nehmen sollte.

„Danke.", hauchte ich leise und nahm beides, nachdem ich mich aufgesetzt hatte. Ich schluckte die Tablette und starrte ins Feuer. Ich nahm nur am Rande wahr, wie Levi die Suppe von Hanji in zwei Schalen füllte.

Er schob mir eine der Schalen herüber, doch ich rührte sie nicht an. Levi begann bereits zu Essen und irgendwann sah er zu mir.
„Es schmeckt besser als es riecht."

„Ich kann noch nicht essen.", murmelte ich und ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben müsste.

„Das hat nichts zu bedeuten.", meinte Levi nach einer ganzen Weile des Schweigens, doch ich war mir nicht sicher. Ich hatte mir die schlimmsten Szenarien ausgemalt, dabei war er die gesamte Zeit über... glücklich?

„Meinst du, wir sollten Enzo gar nicht retten?"
Ich konnte die Frage nur flüstern, doch sie kam mir unglaublich laut vor und sie schwebte über mir, wie eine dunkele Wolke, die nicht verschwand.

„Willst du ihn denn bei Kenny lassen?", stellte mir Levi die Gegenfrage und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

Was war das für eine Frage? Ich wollte Enzo wieder bei mir haben. Denn egal wie sehr ich ihn manchmal verfluchte, liebte ich diesen Jungen, wie meinen eigenen Sohn.
Doch genaugenommen war er es ja nicht. Es war Kennys Sohn. Ich hatte ihm sein Kind weggenommen und war weggerannt.
Und wenn er doch jetzt bei Kenny glücklich war, hatte ich das Recht dazu, ihn da wieder raus zu reißen?

„Wärst du gerne bei Kenny geblieben?"
Ich wusste, dass diese Frage sehr privat war und ich wusste nicht, ob ich darauf eine Antwort erhalten würde.
Doch ich konnte keine Entscheidung treffen, solange ich nicht wusste, wer Kenny eigentlich war.

Als ich Levi gegenüber das erste Mal im Kerker seinen Namen erwähnte, war er so geschockt, dass sich meine Vermutung bestätigte, dass er das größte Monster überhaupt sein musste.
Doch wenn so darüber nachdachte, hatte er eben kein einziges schlechtes Wort über Kenny verloren. Er hatte gesagt, dass es ihm gut bei ihm gegangen war.

Was hätte Enzo schon für ein Leben bei mir. Wir würden wieder vor Kenny fliehen müssen, wenn wir es nicht schaffen würden, ihn umzubringen.
Seinen Vater. Wovon ich ihm immer noch nicht erzählt hatte. Enzo wusste nichts von der Verwandtschaft zu den Ackermans, was vielleicht ganz gut war.

Ich würde es ihm erzählen, wenn er größer wäre und es verstehen würde. Wenn er versteht, warum wir zu seiner Sicherheit seinen Vater umbringen mussten.

„Ja.", antwortete mir Levi nach langer Zeit.
„Damals wäre ich bei Kenny geblieben, doch er hatte mir die Entscheidung abgenommen, indem er einfach verschwunden war, ohne ein Wort des Abschieds.

Jetzt bin ich froh, dass es so gekommen ist. Ich wäre wahrscheinlich immer noch ein Krimineller im Untergrund, wenn ich bei Kenny geblieben wäre."


„Ich muss es mit eigenen Augen sehen.", nuschelte ich.
„Ich muss mich überzeugen, dass es ihm gut geht, bevor ich eine Entscheidung treffen kann."

Ich wollte mich wieder hinlegen, doch Levi umfasste meine Schulter und drückte mich wieder in eine senkrechte Position.
„Erst isst du.", seine Tonlage ließ kein Spielraum für Diskussionen, also nahm ich ergeben die Schale und führte den ersten Löffel in den Mund.

Es schmeckte tatsächlich nicht schlecht, also konnte ich mir noch einen Löffel in den Mund stecken.
Levi beobachtete mich bei jedem Löffel und ich schaffte es unter seinen Argusaugen das gesamte Schälchen leer zu essen.

„Gut.", sagte er knapp. Ich legte mich sofort wieder hin, denn die Müdigkeit wurde unerträglich. Ich nahm noch am Rande wahr, dass Levi das Geschirr mit einer Wasserflasche ausspülte.

Ich versuchte einzuschlafen, doch es war einfach nicht mehr bequem genug. Ich dachte kurz daran, dass es vermutlich daran lag, dass Levi nicht mehr bei mir lag, doch ich würde einen Teufel tun, um ihm das zu sagen.

Stattdessen setzte ich mich auf und holte mir meine Teetasse von heute Morgen. Ich füllte die Kanne mit Wasser, setzte sie ans Feuer und wartete, dass sie heiß wurde.

„Ist dir wieder kalt?", fragte Levi, der mit dem Spülen fertig war.

„Es geht.", antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich spürte, wie er seine Hand auf meine Stirn legte und nach meiner Temperatur fühlte.

„Immer noch ein wenig warm."

„Gib der Tablette ein wenig Zeit zum Wirken."
Er ignorierte meinen Spruch, stattdessen nahm er die Decke, die runtergerutscht war und legte sie mir über die Schultern.
Ich deckte auch meine Arme und meinen Oberkörper zu, und beobachtete Levi dabei, wie er den Tee fertig machte.

Ich hatte den leisen Verdacht, dass er mir nicht zutraute seinen Tee perfekt zu kochen, dass ich ließ es unkommentiert stehen.
Ich nahm dankend die Tasse und nippte kurz dran.

„Wenn es dir besser geht, werden wir in den Untergrund gehen. Wir werden Kenny und Enzo finden und sehen, wie die Lage ist.", sagte Levi und ich spürte, dass er zu mir sah, doch ich starrte einfach nur in die Flammen.
„Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass wir Kenny töten müssen, wenn es hart auf hart kommt."


„Habe ich überhaupt das Recht dazu?", sprach ich die Frage aus, die mir schon die gesamte Zeit durch den Kopf schwirrte.
„Es ist sein Sohn. Ich habe ihn weggenommen und tu so, als wäre ein meins."

„Was redest du da?", fragte Levi, doch ich hatte mich auf den Gedanken versteift und ich spürte, wie wieder die Tränen kamen, die ich versuchte wegzublinzeln.

„Ich weiß doch auch nicht.", sagte ich wahrheitsgemäß und ich wollte aufstehen, um etwas Abstand von Levi zu bekommen und ihn nicht sehen zu lassen, dass ich weinte. Doch er umfasste meinen Arm und zog mich zu sich. Ich wehrte mich für einen Moment gegen seine Arme, die sich um mich wickelten und ich wollte mich im ersten Augenblick nicht gegen seine Brust lehnen. Doch dann merkte ich, wie gut es sich anfühlte und ich ließ es zu. Ich hatte aufgegeben gegen die Tränen zu kämpfen und ließ sie laufen.

Es war nur eine Umarmung, doch sie gab mir das Gefühl, dass ich nicht alles Falsch gemacht hatte. Und ich erinnerte mich daran, dass ich Enzo nur geschützt habe.
Ich habe ihn vor einer Kindheit in dem Untergrund gerettet und auch wenn wir ständig auf der Flucht gewesen waren, haben wir viel gelacht und hatten auch spaß.

Ich empfand Levi gegenüber eine unglaubliche Dankbarkeit, dass er mich an all das wieder erinnerte. Ohne über weitere Konsequenzen nachzudenken, hob ich meinen Kopf von seiner Brust, reckte meinen Hals ein Stück hoch und drückte ihm meine Lippen aus seine...


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