Kapitel 14

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Allein schlenderte ich durch die Gänge. Ich hatte es nicht eilig - die Zeit für das Mittagessen hatte gerade erst begonnen, also hatte ich noch genügend Zeit. Ich nahm mir vor, das Gebäude ein wenig zu erkunden.

Zwar zog es mich auch zum Speisesaal, wo die anderen warteten; andererseits würde es mir sicher auch einmal gut tun, allein zu sein. Natürlich genoss ich die Zeit mit all den wunderbaren Menschen hier, aber ab und an würde ich immer eine kleine Auszeit gebrauchen können. Ich bin schließlich nicht zum Spaß hier - sondern zur "Heilung".


Ha, Heilung. Dass ich nicht lache.


War es wirklich so aussichtslos? Wahrscheinlich. Was ich auch tat, es besserte sich nichts. Ich hatte es ja versucht! Als ich noch zu Hause bei meiner Mutter war, hatte ich ihr versprochen, an mir zu arbeiten. Sie wusste von meiner Depression. Sie wusste, was ich mir selbst - insbesondere meinem Arm - antat. Ich hatte ihr versprochen, damit aufzuhören. Ich wollte mir einen Job suchen, wollte mir eine Zukunft aufbauen, wollte sie zu Hause so gut unterstützen, wie sie es immer für mich getan hatte. Und ich hatte es wirklich versucht. Ich hatte versucht, eine Ausbildung oder einen Job zu finden - doch es funktionierte nicht. Ich bekam Absage über Absage. Ich war schon so verzweifelt, dass ich mich tatsächlich wieder in die Schule zurück gewünscht hatte. So unfair und anstrengend meine Schulzeit auch immer gewesen war - es war doch immer so einfach gewesen. Einem wurde vorgegeben, was man zu tun hatte, man hatte einen geregelten Tagesablauf und niemand erwartete große Dinge von einem. Nach dem Abschluss sah das ganz anders aus. Was sollte man tun? Eine Ausbildung? Ein Studium? Arbeiten? Und selbst, wenn man wusste, was man machen wollte - in welche Richtung sollte man gehen? Welchen Beruf wollte ich für den Rest meines Lebens ausüben?

Meine Mutter hatte mir immer versichert, dass sie mich in allem unterstützen würde. Ich erinnerte mich noch gut an den Abend, an dem ich vor ihr zusammengebrochen war. Mir wurde einfach alles zu viel. Ich wusste nicht mehr weiter. Hatte das Gefühl, egal was ich tat, es brachte nichts. Als hätte ich keine Auswirkung auf mein eigenes Leben. Als seien mir alle Türen verschlossen.

Ich hatte ihr erzählt, dass ich nicht weiter wusste. Hatte ihr erzählt, wie verzweifelt ich war. Wie nutzlos und hilflos ich mir vorkam.

Meine Mutter hatte mich daraufhin in den Arm genommen. Sie hatte mich einfach gehalten. War für mich da. Sie hatte mir versichert, dass egal welchen Weg ich wählen würde, nur mein Glücklichsein zählen würde. Es wäre nicht wichtig, wie viel ich verdienen würde. Solange ich gut über die Runden käme und zufrieden wäre, wäre alles in Ordnung. Das wäre das Einzige, was zählt. Und wenn ich einmal nicht mehr zufrieden wäre, hätte ich heutzutage jederzeit die Möglichkeit, den Beruf zu wechseln.


Tatsächlich hatte mir all das geholfen. Allerdings... nur für kurze Zeit. Denn mir blieb noch immer ein großes Problem: Was sollte ich tun? In welche Richtung sollte ich gehen?

Ich hatte mir verschiedenes rausgesucht und mich beworben. Überall.


Und es kamen nur Absagen zurück. Niemand wollte mich.


Ich hatte jegliche Hoffnung verloren. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Ich stürzte wieder in das tiefe Loch, in das ich während der Schulzeit schon gestoßen worden war. All die Pöbeleien, all die Stöße, all die Tritte - ich fühlte mich wertlos. Und all das nur, weil ich nicht der stärkste, "männlichste" Typ war. Nur, weil ich nicht auf Frauen stand. Nur, weil ich ich war. Ich fühlte mich, als sei ich falsch. Als sei ich ekelhaft. Als sei ich wertlos. Mir wurde ja schließlich nichts anderes gesagt.

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