Kapitel 5

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„Das hier ist die Bibliothek“, sagte Zayn, nachdem wir minutenlang schweigend nebeneinander her gelaufen waren und ich versucht hatte, mir den Weg einzuprägen. „Hier kann man so ziemlich jede Buchrichtung bekommen.“

„Kann man sich die Bücher hier auch mit aufs Zimmer nehmen?“
Zayn nickte. „Das musst du vorne am Schalter der Bibliothekarin melden, dann wird das auf deinen Namen hinterlegt.“ Er sah auf die Uhr über der Eingangstür zur Bibliothek und klopfte mir auf die Schulter. „Ich muss los. Muss beim Waschdienst helfen. Sieh dich einfach hier etwas um, die Bücherauswahl hier ist echt beeindruckend. Wir sehen uns!“ Und mit diesen Worten verschwand er um die Ecke.

~*~

Zayn hatte recht; die Auswahl hier war wirklich riesig. Man fand alles von historischen Romanen über Fantasy und Thriller bis hin zu Sachbüchern. Sogar Erotikbücher gab es hier.
Die Bibliothek an sich war wunderschön. Sie machte einen eher alten Eindruck – alte Holzregale mit geschnitzten Verzierungen und dieser herrliche Geruch alter Bücher – aber der Teppich und die Wände schienen neuer zu sein. Der Teppich hatte hier – genau wie im Rest des Gebäudes – eine gelbliche Farbe und die Wände waren in einem zarten Braunton gestrichen. Ich fühlte mich absolut wohl hier.
Langsam ging ich von Regal zu Regal und strich mit meinem Finger über die vielen verschiedenen Buchrücken, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu finden. Irgendwann hatte ich die halbe Bibliothek durchquert und war an der dem Eingang gegenüber liegenden Wand angekommen. Ich wollte gerade am nächsten Regal entlang wieder zurückgehen, da stach mir ein kleiner Raum ins Auge. Ich näherte mich ihm.
Es war ein kleines, komplett weißes Zimmer. Den Eingang bildeten einfach nur zwei Wände, die zu einander führten – ganz ohne Tür. Der Raum war – bis auf eine grelle Leuchtstoffröhre – leer . Wände, Boden und Decke waren scheinbar alle aus hartem Beton. Kein Teppich. Alles schlicht. Weiß. Leer. Wofür war der Raum gedacht?

Plötzlich hörte ich ein Räuspern hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum und sah eine etwas ältere Dame mit verschränkten Armen und skeptischem Blick vor mir stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit scharfer Stimme.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich sehe mich nur um, vielen Dank.“
Ihr Blick fiel auf mein Armband.
„Sie sind neu hier, richtig?“
Ich nickte.
Sie musterte mich erneut, drehte sich dann jedoch auf dem Absatz wieder um und ging zurück zu ihrem Tresen.
Den Atem, den ich – ohne es zu bemerken – angehalten hatte, ließ ich stoßartig aus meinen Lungen strömen. Seltsame Frau. Genauso wie der Ort hier.

Genauso wie du.

Ich drehte mich wieder um, warf einen letzten Blick in den leeren Raum – fast so, als wäre irgendetwas darin aufgetaucht, während ich ihm den Rücken zugewandt hatte – und ging dann weiter an den Regalen entlang. Ich überlegte einen Moment, ob ich die Wendeltreppe nach oben nehmen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Ich würde hier noch lange genug sein, die obere Etage kann ich mir noch wann anders ansehen.
Nach einigen Minuten fand ich ein Buch in der Fantasyabteilung. Ich schlenderte damit hinüber zu der kleinen Ecke in der Nähe des seltsamen Raumes und ließ mich in einen der Sitzsäcke fallen.

~*~

Ich hatte bereits etwa ein Viertel des Buches durch, als ich plötzlich einen lauten Knall in der Bibliothek hörte. Es hörte sich an wie die schwere Eingangstür – aber wieso erzeugte sie so einen Lärm?

„Passen Sie doch auf! Die Tür ist wertvoll, da tritt man nicht einfach geg- Hallo?!“, hörte ich jetzt die Bibliothekarin aufgebracht rufen. Es folgten nur schnelle Schritte – irgendjemand rannte durch die Bibliothek. In meine Richtung.
Panik stieg in mir auf. Was, wenn das einer dieser extremen Patienten war, der mir etwas antut, wenn er mich findet? Schnell versteckte ich mich hinter dem nächsten Regal.
Ich hörte, wie die Schritte an mir vorbei liefen und langsam wieder leiser wurden, bis sie ganz verstummten. Wer war das? Vorsichtig lugte ich hinter dem Regal hervor, nur um leere Gänge zu sehen.
Langsam beruhigte ich mich wieder. Wäre es einer der Extremfälle, hätte die Bibliothekarin sicher schon Verstärkung gerufen und es würde hier nur so wimmeln vor Wächtern und Pflegern.
Ich wollte mich gerade wieder zurück in meine Ecke begeben, als ich ein leises Schluchzen hörte und erstarrte.
Wer war das? Wer war hier?
Ich folgte dem leisen Wimmern, bis ich bemerkte, dass ich dem seltsamen weißen Raum immer näher kam. Sollte ich weitergehen? Wieso hatte die Bibliothekarin noch keine Hilfe gerufen?

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