Kapitel 16

6.7K 651 128
                                    


"Durch welche Art von 'traumatischem Erlebnis' entsteht diese Störung?"



Liam seufzte. "Es muss sich um eine schwere, langanhaltende Traumatisierung handeln. In den meisten Fällen handelt es sich um eine frühkindliche Traumatisierung in Form von sexuellem, physischem, psychischem und rituellem Missbrauch, vor allem im eigenen Elternhaus. Und das häufig schon vor dem fünften Lebensjahr beginnend. Es handelt sich um eine Situation, die das Kind als lebensbedrohlich und unausweichlich erlebt. Und das wir dann eben mit den Persönlichkeiten vom 'normalen' Bewusstsein abgeschottet. Das kannst du dir wie verschiedene Kanäle und Bahnen vorstellen, die jeweils zu verschiedenen Gedächtnissen, Emotionen und Verhaltensweisen führen."

"Also... kommt die Störung von schwerem sexuellen Missbrauch in der Kindheit?"

Liam nickte. "Das, oder andere traumatische Erlebnisse, ja. Wenn der Missbrauch nicht aufhört und das Kind keine Bezugsperson hat, die Liebe und Geborgenheit geben könnte, festigen sich die Dissoziationen, weil der Missbrauch von so einem jungen Individuum einfach nicht verarbeitet werden kann."

Das machte mich so wahnsinnig wütend. Natürlich sprach Liam in generellem Kontext, aber Harry musste soetwas ja auch zugestoßen sein, wenn er an der Störung leidet. Wer könnte einem so reinen und unschuldigen Lebewesen so etwas antun?
"Du sagtest etwas vom Elternhaus?"

"Es sind häufig Elternteile, die die Gewalt anwenden. Sexuelle Gewalt ist dabei leider das häufigste Vorkommnis. Meist sind die Täter entweder in der eigenen Familie oder im nahen sozialen Umfeld des Opfers. Das kann der Vater und/oder die Mutter sein, ein Onkel, Stiefvater, Familienfreunde, Babysitter, Nachbaren, Lehrer, Erzieher und sonst nahe Bekannte. In jedem Fall sind es Personen, die das Kind kennt, denen es vertraut, die es vielleicht sogar liebt oder auf die sich das Kind verlässt."

Ich schluckte hart. Wow. Ich spürte, wie mir langsam Tränen in den Augen aufstiegen, als ich daran denken musste, dass Harry soetwas erleben musste.

"Ich denke, das ist genug für heute. Mich würde überraschen, wenn du dir all das merken konntest", lachte Liam und ich stimmte gequält in sein Lachen mit ein. "Jetzt ruh dich erst einmal gut aus, fang dir noch eine Mütze Schlaf ein, damit du bald wieder zurück kannst, ja?"

Ich nickte, als Liam sich zur Tür begab. Er drehte sich ein letztes Mal zu mir um. "Mach dir nicht zu viele Gedanken, ok? Es wird alles gut."

Ich warf ihm ein zartes Lächeln zu - zu mehr konnte ich mich einfach nicht durchringen. Liam wünschte mir noch eine gute Nacht und verließ dann den Raum.

Dunkelheit hüllte mich erneut in die nun herrschende Stille.

Aber die Stille herrschte nur im Raum. In meinem Kopf schwirrten hunderte von Fragen und Gedanken wild durcheinander. Die kleine Nachttischlampe spendete nur wenig Licht - aber keine Ruhe, und erst recht keinen Trost.

Liam hatte Recht - es waren tatsächlich eine Menge Informationen, und die Hälfte hatte ich wohl schon wieder vergessen. Aber die wichtigen Dinge, die Dinge, die ich mit Harry in Verbindung brachte, blieben wie eine kleine Fliege an einem Klebeband hängen.

Harry war der Host. Die anderen vier waren abgespaltene Persönlichkeiten. Von den begleitenden Symptomen hatte ich bei Harry bisher noch keine bemerkt - vielleicht litt er ja früher mal darunter? Ich musste mich da mal bei Niall und den anderen etwas umhören; oder vielleicht konnte Harry selbst mir ja etwas darüber erzählen.

Das Switchen konnte bewusst und unbewusst, kontrolliert und unkontrolliert ablaufen. Das passte zu dem, was Haz mir mal erzählt hatte.

Ich musste unbedingt versuchen herauszufinden, welche der Persönlichkeiten von welchen anderen etwas mitbekommt. Was, wenn H die Handlungen, Gefühle und Gedanken aller Persönlichkeiten mitbekommt? Wie könnte ich ihn dann aufhalten? Dann müsste ich Liam davon erzählen, damit er das als Harrys Therapeut regeln kann.

MentalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt