Kindheitsfreund

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Ich war erschöpft, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Gestern war ich länger geschwommen, als im ganzen letzten Jahr. Ich machte mich fertig und lief wie immer mit Izzy zum Frühstück. Es war schön eine Freundin gefunden zu haben. Ich fühlte mich auf der Blue Reef High wirklich sehr wohl. 

Der Vormittag verlief ruhig, ich war nicht mehr so neu, wie noch vor ein paar Tagen und wir hatten hauptsächlich Menschenfächer, wo meine zweite Gestalt niemanden interessierte. In der letzten Stunde hatten wir Verhalten in besonderen Fällen. Mrs. Pelagius erzählte hier immer eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit, als sie noch allein in Meeresschildkrötengestalt gelebt hatte. Sie schien unzählige dieser Geschichten zu besitzen, was bei ihrem Alter auch nicht erstaunlich war. Heute berichtete sie über einen Vorfall mit zwei Tauchern, die versucht hatten, Korallenstücke abzubrechen, um sie teuer zu verkaufen:
„Ich war als Schildkröte in der Nähe der Küste von Hawai unterwegs, als ich dieses Schiff bemerkte. Es war nur sehr klein und außer den zwei Tauchern war auch niemand darauf. Sie tauchten hinunter zum Riff und hieben dort mit Hämmern auf die Korallen ein. Ihr wisst ja alle, wie gefährdet solche Riffe sind, und ich war auch schrecklich wütend auf die Taucher. Was hättet ihr getan?“
„Sie abgelenkt“, schlug Noah vor und klatschte sich mit den anderen Delfinen ab.
„Das funktioniert aber sicher nicht bei allen, mich bemerken solche Taucher doch nicht mal“, merkte Juna an. 
„Natürlich, sowas klappt nicht immer, aber es ist ein guter Ansatz“, meinte Mrs. Pelagius, „Ich hatte damals zum Glück meine Sachen in der Nähe versteckt und mein Handy dabei. Damit habe ich die Küstenwache verständigt.“
„Konnten sie denn Polynesisch?“, fragte Toco, der Alligator verblüfft.
„Nein, aber die Leute auf der Wache konnten Englisch“
Wir redeten noch etwas über das Thema und kamen zu dem Ergebnis, dass es praktisch war, das Seawalker sich in zweiter Gestalt immer verstanden. Am Ende der Stunde versprach Mrs. Pelagius, uns in Gewässerkunde beizubringen, wie man noch lebende Korallenstücke wieder einpflanzen konnte. Sie fuhr sich dabei traurig lächelnd durch das silberne Haar.

„Ich glaube, dass war Mrs. Pelagius erste Unterrichtsstunde als Mensch bei uns“, stellte Finny nach dem Unterricht fest.
Ich blickte sie überrascht an. „Wie macht sie den Unterricht den sonst?“
„Na als Meeresschildkröte“, meinte Izzy, als wäre das selbstverständlich. 
Ok war es vielleicht auch. Ich nickte also.
Du bist wohl immer noch nicht so ganz bei uns angekommen, was?, verkündete Nox, der Papageienfisch aus einem Aquarium heraus.
Ich spürte, wie ich rot wurde. Stimmt, ich hatte mich immer noch nicht ganz daran gewöhnt unter einem Haufen Wandler zu leben, die ihre Tiergestalten toll fanden und ständig zwischen ihnen wechselten.
Finny knuffte mich in die Seite. „Ist doch nicht schlimm. Hey, hast du Lust, mit runter zum Strand zu kommen?“
Ich nickte und lächelte sie an. Mit Finny würde es auf jeden Fall ein lustiger Nachmittag werden. „Aber nicht lange, ich will nachher noch lernen“
Finny verdrehte nur die Augen und lachte mich aus. „Okay, dann eben nur kurz.“
Unten am Strand waren bereits Olivia und Juna am Baden. Wir gesellten uns zu ihnen. Erst nach zwei Stunden verabschiedete ich mich, um in der Bibliothek zu lernen. Doch dort kam ich nie an. 

Ich lief den Weg zum Strand nach oben an dem Süßwasserteich vorbei. Unter den schattigen Bäumen war es einfach angenehmer. Da tippte mir plötzlich jemand auf die Schulter. Ich blieb stehen und drehte mich um. Der blonde Surfertyp blickte mich an. Ich erinnerte mich, dass Farryn ihn mit Chris angesprochen hatte. Irgendwas klingelte es bei dem Namen bei mir, aber ich kam nicht mehr darauf, warum.
„Kann ich mal mit dir reden, Ava?“, fragte Chris.
Ich nickte zögerlich und folgte ihm durch die Bäume zum Bootshaus hinunter. Irgendwie hatte es etwas Gruseliges, dass ich mich von einem Fremden so weit von meinen Freunden weglocken ließ. Ich schüttelte über meine eigenen Gedanken den Kopf. Er war kein Fremder, sondern ein Klassenkamerad! 
Chris umrundete das Bootshaus und lief auf der von der Schule abgewandten Seite durch den Sand. Ich folgte ihm schweigend, irgendwie hatte diese Stille etwas Unangenehmes. Aber da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schwieg ich weiter.
Dann ließ sich Chris plötzlich einfach in den Sand fallen. Einladend klopfte er neben sich. Unsicher blickte ich mich um. Von hier aus, konnte uns mit Sicherheit niemand mehr hören und das bereitete mir ein schlechtes Gefühl. Schließlich siegte aber meine Neugier und ich ließ mich doch neben ihn fallen. 
„Ich wollte nicht, dass uns jemand hört“, erklärte Chris, der meinen suchenden Blick wohl bemerkt hatte. „Ich wollte nur wissen, ob du dich noch an mich erinnerst“
Ich starrte ihn an, in dem Versuch ihn einzuordnen.
„Was bist du noch mal für ein Tier?“, fragte ich dann und blickte beschämt zu Boden.
„Kalifornischer Seelöwe“, antwortete er.
Mir blieb der Mund offenstehen. Ich kannte nur einen kalifornischen Seelöwen. Das würde auch erklären, warum sein Name mir so vertraut vorgekommen war.
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, wagte ich einen Vorstoß.
„Ich weiß.“, meinte Chris ruhig, „Es war aber nicht deine Schuld, Pa hat den Kontakt abgebrochen“
Ich taxierte Chris ruhig. Irgendwie konnte ich immer noch nicht glauben, dass er jetzt so einfach neben mir sitzen sollte.
„Wenn das ein Scherz ist…“, begann ich. 
„Wäre es ein sehr schlechter, ich weiß“, unterbrach mich Chris, „Ich bin es wirklich, Schrecken der Meere“
Ich schluckte hart. „Beweis es“, flüsterte ich.
Chris schob die Haare hinter mein Ohr zurück, beugte sich vor und flüsterte: „Weißer Hai“
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ich wusste, dass er es nicht anders wissen konnte. Mein Chris hätte es nie jemandem erzählt und die Lehrer plauderten auch nichts aus. Da war ich mir sicher.
Ich lächelte unsicher. „Warum brach der Kontakt eigentlich ab?“, fragte ich dann.
Es war vielleicht nicht taktvoll, sowas gleich am Anfang zu Fragen, aber ich musste es wissen. 
„Meine Mutter ist gestorben. Mein Vater wollte sich daraufhin von allen Wandlern distanzieren“, erklärte Chris.
Ich schluckte. Unser Kontakt war in der vierten Klasse abgebrochen. So früh sollte niemand seine Mutter verlieren. Stumm nahm ich Chris in den Arm. Versuchte ihm Trost zu spenden, wenn ich schon sonst nichts tun konnte. Ich war schließlich einige Jahre zu spät.
„Du hast dich auch verändert seit damals“, meinte Chris irgendwann und richtete sich auf. 
Ich nahm meinen Arm von seiner Schulter und blickte zu Boden. „Ich bin an die falschen Wandler geraten.“ 
Ja, zum ersten Mal gestand ich es mir selbst ein. Sie waren keine guten Freunde gewesen. Auch wenn sie es versucht hatten.
Chris blickte mich aufmerksam an, drängte mich aber nicht zum Weitersprechen. Das beruhigte mich ungemein. Erst nach einer längeren Pause traute ich mich, weiter zu reden: „Ich war so einsam, nachdem du weg warst. Ich meine das nicht als Vorwurf Chris, sondern als Tatsache. Und dann traf ich Ben. Er war nett. Obwohl sein Schwarm Angst vor mir hatte, durfte ich mich mit ihnen treffen und bei ihnen sein. Aber sie reagierten auf alles so empfindlich. Um nicht allein zu sein, habe ich mich eben angepasst. Und nun bekommen ich es nicht mehr raus.“
„Sie haben dir beigebracht, Angst vor dir selbst zu haben“ 
Chris sagte das ganz ruhig, wie eine Feststellung. Ich nickte nur, weil mein Hals sich unangenehm zugeschnürt hatte. Schon rollten die ersten Tränen über mein Gesicht. Zuerst vorsichtig, dann immer aufgeschlossener, erzählte ich Chris von Bens Verrat. Es war seltsam mit ihm darüber zu reden. Wie mit einem Fremden und alten Bekannten gleichermaßen. Aber es tat auch gut sein Herz auszuschütten. Ja, ich merkte es, Chris tat mir gut. Als ich fertig erzählt hatte, schüttelte Chris den Kopf. 
„Mistkerl“, schimpfte er. 
Dann sah er mich mit einem Blick an. So befangen, irgendwie. Als wüsste er nicht, wie er weitersprechen sollte. 
„Möchtest du… mal wieder mit mir schwimmen gehen?“
Ich blickte ihn an. Unbewusst griff ich mir an den Unterarm, wo mein Tattoo war. Hatte ich die gemeinsamen Schwimmrunden nicht immer am meisten vermisst? Dennoch zögerte ich. „Lass mir noch etwas Zeit“, bat ich ihn. 
Chris nickte. „Wir sollten zum Abendessen“
„ja, dass sollten wir“
Wir standen gleichzeitig auf. „Freunde?“, fragte ich unsicher.
Chris Miene erhellte sich. „Freunde“

„Sei mit mir frei", sprach der Seelöwe
 
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