Immer diese Lachmöwen

42 4 0
                                    

Juhu!, rief Chris überglücklich und segelte im hohen Bogen über mich hinweg.
Ich lachte ebenfalls. Es tat so gut, einfach zu entspannen und loszulassen, ohne ständig auf der Hut zu sein. Kurz erlaubte ich mir, die Augen zu schließen. Es war einfach so schön, dass er keine Angst… Aua, au.
Ich öffnete die Augen und sah einen Seelöwen, der mir direkt ins rechte Auge starrte. Vor Schreck schoss ich ein Stück vorwärts. Hinter mir hörte ich Chris Seelöwenlache. 
Du kannst mich doch nicht beißen und dann so erschrecken!, beschwerte ich mich.
Chris schwamm wieder an meine Seite, bevor er lachend erwiderte: Wieso denn nicht? Ich weiß doch, dass du mir nichts tust.
Ich seufzte. Es hatte wohl keinen Sinn mit ihm darüber zu diskutieren.
Wir sollten zurück, sonst verpassen wir noch das Abendessen, meinte Chris plötzlich. 
Ich schwamm in Richtung Oberfläche und sah zum Himmel. Es wurde tatsächlich schon dämmrig. Wir waren wohl länger weggewesen, als ich erwartet hatte.
Ich sendete Chris meine Zustimmung in den Kopf und der Seelöwe schwamm los Richtung Schule. 

Als die Lagune bereits in Sicht war, brüllte Chris plötzlich: Runter Ava!
Erschrocken zuckte ich zusammen und tauchte noch etwas tiefer ab. Dann hörte ich eine neue Stimme in meinem Kopf. 
Ich wollte doch nur mal gucken, was sie für eine zweite Gestalt hat, maulte jemand.
Das geht dich aber nichts an!, fauchte Chris aufgebracht, Ava erzählt es schon, wenn sie es möchte, klar?
Wer ist da eigentlich?, mischte ich mich vorsichtig ein. 
Daphne, kam es säuerlich zurück, Und jetzt tauch auf, oder schämst du dich etwa?
Ich schlug heftig mit dem Schwanz, um meine aufsteigenden Gefühle loszuwerden. Dann tauchte ich vorsichtshalber noch etwas tiefer ab. Kurz war es still. 
Nicht!, hörte ich Chris plötzlich brüllen.

Gleich darauf stürzte eine Lachmöwe auf die Wasseroberfläche zu, bremste kurz davor ab und flog davon. Ich sah Chris im gleichen Augenblick zu der Stelle hechten, aber einen weißen Hai konnte man nicht hinter einem Seelöwen verstecken. Das ging einfach nicht. Ich fing noch ein paar private Gedanken von Daphne auf: Voll gefährlich! Das muss ich gleich allen erzählen.
Dann war sie weg. Und mit ihr auch das schöne Gefühl der letzten Stunden. 

Ängstlich zog ich am Grund des Meeres Kreise und traute mich nicht weiter auf die Schule zu zuschwimmen. 
Chris unterbrach meine Kreise schließlich, indem er mir einfach vor die Nase schwamm. 
Na komm, meinte er behutsam und stupste mich an, Wir schwimmen zu deinem Umziehfelsen.
Dann schwamm er los. Nicht so schnell wie vorhin, sondern ganz langsam und sich immer wieder nach mir umschauend. 

Am Felsen angekommen, verwandelte ich mich sofort. Zitternd zerrte ich meinen Badeanzug zu mir ins Wasser und zog ihn an. Dann kletterte ich auf den Felsen. 
Ich schlang die Arme um meinen Körper und kauerte mich zusammen. Ich war kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst verdrängte alles andere. Wie würden mich die Mitschüler jetzt behandeln? Izzy, Finny, was hielten sie jetzt wohl von mir?
Ein warmer Atem streifte meinen Arm. Ich blickte auf und sah in warme braune Augen. Chris saß als Seelöwe neben mir und drückte seinen Kopf an meinen Arm. Ich schlang beide Arme um ihn und drückte ihn an mich. Wimmernd vergrub ich mein Gesicht in Chris' Fell und ließ den Tränen freien Lauf. 
Erst nach einer ganzen Weile schaffte ich es mich zu beruhigen. Mit verheultem Gesicht blickte ich Chris an.
„Tut mir leid“, flüsterte ich.
Dann wischte ich mir mit dem Armrücken über die Augen. Ich hielt inne. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich meine Brille noch gar nicht aufhatte. Reflexartig griff ich danach. Dann betrachtete ich die Sonnenbrille in meiner Hand stumm.
Brauchst du die denn jetzt noch?, sprach Chris behutsam.
Ich blickte ihn an. „Ich weiß… ich kann nicht…“
Chris drückte seine Schnauze kurz an meinen Arm.
Ich geh mich umziehen, wir sehen uns gleich, ok?
Dann rutschte der Seelöwe zurück ins Meer und schwamm um die Felsen herum. Bestimmt hatte er seine Sachen einfach am Strand liegen, vermutete ich. Dann atmete ich tief durch. Es hatte keinen Sinn es hinauszuzögern. Die Lehrer wussten es und ich war trotzdem hier, erinnerte ich mich selbst. 
Langsam zog ich meine Sachen über den Badeanzug. Die lange Jeans, den roten Pulli, die Sonnenbrille. Dann kletterte ich an den Strand.
Zu meinem Glück war der Strand menschenleer. Nur Chris stand da und lächelte mich an. 
„Danke“, meinte ich, als ich bei ihm ankam. 
Er fragte nicht für was. Es war einfach ein Dankeschön. Für unsere Freundschaft, für seine Treue, seinen Mut und seinen Trost.
Chris drückte mich an sich. 
„Wir schaffen das“, erklärte er mir, „Zeig ihnen, dass du immer noch die selbe bist“
Ich lächelte. Ja, auf meinem Gesicht waren Spuren vom Rumheulen. Ja, meine zweite Gestalt war herausgekommen. Doch ich musste da nicht allein durch. Chris war mein Freund und er war bei mir. Mehr als Ben es je gewesen war. Ich versuchte den Gedanken an diesen Idioten zu verdrängen. Auch wenn manche meiner Klassenkameraden ihm vielleicht gleich ähnlich werden würden, zumindest im Verhalten... 
Chris ging ein paar Schritte und drehte sich dann nach mir um. Ich versuchte mich erneut an einem Lächeln. Dann lief ich zu ihm. Zusammen betraten wir die Cafeteria.

„Sei mit mir frei", sprach der Seelöwe
 
 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt