Das Gleichgewicht

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Es war der Sei dein Tier Unterricht am nächsten Tag, der mir schließlich die Stimmung wieder ruinierte. Dabei war vorher alles so schön gewesen. 

Gestern hatte ich nicht mehr an Ben gedacht. Ich war mit dem Gedanken eingeschlafen, dass ich hier anscheinend wirklich dabei war Freunde zu finden. Ich war auch viel ausgeschlafener gewesen und hatte Izzys Strom an Wörtern gut standhalten können, was bedeutete das ich in der Lage war mit mehr als drei Wörtern richtig zu antworten. Auch unsere ersten zwei Stunden Gewässerkunde und Englisch waren toll gewesen. Und dann kam Sei dein Tier. 
Bereits vor Stundenbeginn war ich zu Mrs. Bennett nach vorne gegangen und hatte mich für den Ausraster in der letzten Stunde entschuldigt. Zu meiner Erleichterung war Mrs. Bennett tatsächlich so nett, wie alle immer sagten und hatte die Entschuldigung gerne angenommen. Dann begann die Stunde.
„Wir behandeln heute das Thema von letzter Stunde weiter“, verkündete Mrs. Bennett. 
Haie, na toll.
„Dafür nehmen wir heute den Tigerhai durch. Tiago würdest du dich bitte verwandeln?“
Im Klassenraum wurde es still. Fast alle blickten gespannt zu einem Jungen in der hinteren Reihe. Tiago stand auf und schien gerade das Verwandeln zu beginnen als ein aufgestyltes Mädchen in der ersten Reihe sich meldete. 
„Mrs. Bennett, aber Tiago ist GEFÄHRLICH!“, rief sie.
„Ella“, begann Mrs. Bennett ruhig, „Tiago hat sich sehr gut im Griff und du weißt, dass er niemals jemanden angreifen würde“
„Höchstens dich, so wie du und deine Mutter ihn immer fertig machst“, verkündete ein anderes Mädchen, von dem ich inzwischen wusste, dass sie ein großer Tümpler war und Shari hieß.
„Tiago wird NIEMANDEN angreifen“, betonte Mrs. Bennett.  
Tiago nickte zu meiner Erleichterung auf Mrs. Bennett Worte hin. Dann begann er sich zu verwandeln. Es war immer wieder faszinierend, wie das aussah. Die Haare verschwanden, Kiemen bildeten sich, die Arme und Beine wurden zu Flossen, es kribbelte so schön… Moment, es kribbelte?
Erschrocken bemerkte ich, dass Tiagos Verwandlung bei mir wohl den Echo-Effekt hervorgerufen! Früher hatte ich diesen Effekt bei allen Verwandlungen bekommen, inzwischen hatte ich aber gedacht es im Griff zu haben. Doch anscheinend fühlte sich meine Tierseite vernachlässigt, denn sie kämpfte immer stärker und ich spürte schon, wie sich meine Arme verformten.
„Ava, du sollst dich nicht verwandeln!“, zischte mir Izzy zu, die gerade neben mir saß.
„Ich weiß“, knurrte ich und schob meine Brille zurück, die durch die anfangende Kopfverwandlung bereits ins Rutschen geriet. 
Panisch kramte ich mit meinem halbverwandelten linken Arm das Foto aus der Tasche. „Das bin ich, das bin ich“, wiederholte ich in Gedanken immer wieder.
Irgendwo am Rand meines Bewusstseins bekam ich mit, wie Ella sich über mich lustig machte und mir Izzy irgendetwas zu raunte. Ich glaubte kurz auch Mrs. Bennett zu hören, ignorierte es aber. Ich wollte mich nicht verwandeln! Nicht hier und nicht so! Ich atmete betont tief, starrte das Bild an und spürte endlich Anzeichen der Rückverwandlung. Erst als ich mich wieder vollständig menschlich fühlte, löste ich meinen Blick von dem Bild. Und bemerkte, dass meine Klassenkameraden mich anstarrten. 
„Was bist du denn für ein Tier? Das sah gerade echt beeindrucken aus“, fragte schließlich Blue und ihre Stimme war seltsam dünn. 
Ich senkte nur den Blick und antwortete einfach gar nichts. Es wusste außer mir nur Mrs. Bennett und die würde mich schon nicht verraten. 
Nach ein paar Minuten des Schweigens blickte ich wieder nach oben und bemerkte das Mrs. Bennett mich auffordernd ansah. Ich atmete tief durch. 
„Entschuldigung, das war wohl gerade der Echo-Effekt“, erklärte ich.
Mrs. Bennett lächelte mich an. „Schon in Ordnung, dass kann bei verwandten Tierarten schonmal vorkommen. So wir machen weiter“
Während Mrs. Bennett den Unterricht fortführte, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Jetzt mal ehrlich, warum passierten mir in diesem Fach lauter blöde Sachen? Ich seufzte. Wenn ich schon den Echo-Effekt bekam, sollte ich echt mal wieder Verwandlung üben. Am besten gleich heute Nachmittag.
Nach dem Mittagessen war ich immernoch fest entschlossen meinen Plan durchzuziehen. Ich verabschiedete mich also von Izzy und Finny und ging allein zu meiner Hütte. Drinnen kramte ich meinen Badeanzug aus. Er war komplett schwarz. Ben hatte es immer schrecklich gefunden, aber ich hatte mich einfach nicht überwinden können, mir bunte Anzüge zu kaufen. Also waren wir nur noch selten zusammen schwimmen gewesen und irgendwann hatte es ganz aufgehört…
Ich wischte mir über die Augen und vertrieb die Gedanken an Ben. Dieser Garibaldi-Fisch konnte mir gestohlen bleiben!
Ich schlüpfte in den Badeanzug und setzte meine Sonnenbrille ab. Ich starrte auf die schlichte dunkle Brille in meiner Hand. Bei der Verwandlung würde sie mir sowieso abfallen, also konnte ich sie auch direkt hierlassen. Allerdings sahen dann auch alle, denen ich als Mensch begegnete, meine Augen. Nervös spielte ich mit der Brille herum, dann schüttelte ich den Kopf und setzte sie wieder auf. Dann musste ich nachher eben danach tauchen. 
Kurz entschlossen griff ich mir noch ein Handtuch und verließ meine Hütte Richtung Strand. Dort angekommen, blieb ich erstmal stehen und sah mich um. Blöderweise ist auf einer Schule mit Seawalkern immer viel Betrieb am Strand. Und wenn es so sonnig war wie heute, konnte man davon ausgehen, dass sich die ganze Schule hier aufhielt. Ich verzog das Gesicht. Wie sollte ich mich hier den unbemerkt verwandeln? Klar, ich könnte bis heute Abend warten, aber ob das was nützte? Mein Blick schweifte über den Strand zur Bucht und viel auf die Felsen, die die Bucht eingrenzten. Dahinter würde ich eine gute Deckung haben. Bevor ich es mir anders überlegte, lief ich los. 
Es war schwierig, aber nicht unmöglich, über die Felsen der Bucht zu klettern, ohne dass mein Handtuch nass wurde. Zum Glück sprach mich niemand an, meine Klassenkameraden waren alle mit sich und ihren Freunden beschäftigt. Ich kletterte also über die Felsen und suchte nach einer guten Stelle, um sie zu überwinden. Da war eine! Hinter einigen hohen Felsen, war ein kleinerer, der noch dazu ganz flach und gerade aus dem Wasser ragte. Ich kletterte dahin und stellte fest, dass man von dort aus weit aufs offene Meer schauen konnte. Gleichzeitig war man durch die Felsen im Rücken von der Bucht abgeschirmt. Ich lächelte zufrieden. Das hier war die perfekte Stelle. Ich breitete mein Handtuch aus und lehnte mich bequem an. Hier war es schön. Sicher hätte auch zwei oder drei Personen auf den Felsen gepasst und wenn ich so wie jetzt an den Felsen angelehnt saß, reichten meine Beine bis zur Kante. Ich lächelte zufrieden. Die Sonne wärmte den Stein, man hatte eine traumhafte Aussicht aufs Meer. Dann viel mir wieder ein, wozu ich hier hergekommen war. Seufzend erhob ich mich. Dann sollte ich jetzt wohl mit dem Verwandeln beginnen. 
Ich ließ mich ins Wasser gleiten und schloss konzentriert die Augen. Farryn hatte meine Eltern damals gewarnt, dass eine zulange unterdrückte Tiergestalt oft zu unkontrollierten Verwandlungen führte. Deshalb hatten meine Eltern mich früher jedes Wochenende an den Strand gefahren und hatten mit mir geübt. Ich lächelte bei dem Gedanken daran. Sie hatten nie vor mir Angst gehabt und waren auch nach meiner Verwandlung bei mir im Wasser geblieben. Inzwischen konnte ich meist selbst einschätzen, wann ich mal wieder ins Meer musste. Ben hatte ich das nie erzählt. Meist war ich weit weg von seinem Territorium geschwommen. Eine Träne stahl sich aus meinem Auge. Ich wischte sie fort und bemerkte dabei, dass ich meine Brille noch aufhatte. Eilig setzte ich sie ab und legte sie auf mein Handtuch. Dann versuchte ich erneut mich zu verwandeln. 
Ich schloss die Augen und stellte mir meine Tiergestalt vor. Ein großer Raubfisch, die Oberseite der Flossen und der Rücken schwarz, die Unterseite weiß. Zufrieden spürte ich, wie mich ein Kribbeln durchschoss. Ich war also trotz der Patzer in letzter Zeit immernoch gut in Verwandlung. Dann kippte ich leicht vorn über und tauchte unter Wasser. Ich schwamm ein Stück und stellte zufrieden fest, dass Wasser durch meine Kiemen strömte. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte ich mich komplett verwandelt. Überraschenderweise fühlte es sich gar nicht so schlecht an wieder als weißer Hai im Meer zu sein. In letzter Zeit hatte ich meine Tiergestalt wirklich vernachlässigt. 
Vor mir im Wasser schwamm mein Badeanzug. Vorsichtig versuchte ich ihn von unten mit der Schnauze hochzuheben, was allerdings mehr schlecht als recht gelang. Am Ende schaffte ich es dann doch irgendwie ihn auf den Felsen zu legen. Dann konnte ich endlich losschwimmen. 
Im Meer besaß ich nicht viel Orientierung, erst Recht nicht hier meilenweit von der Küste Kaliforniens entfernt, aber ich schwamm einfach drauf los und entschied mich so nah an der Küste zu bleiben, dass ich sie zwar sehen, aber niemanden erschrecken würde. So konnte ich hoffentlich unbemerkt ein paar Stunden im Wasser verbringen. 
Mein Plan schien aufzugehen. Ich schwamm in der Nähe der Küste, beobachtete die Fische, die vor mir panisch in Sicherheit flüchteten und sich hinter mir vorsichtig wieder hinaustrauten und genoss das Wasser um mich herum. Ein bisschen warm für meinen Geschmack, aber sonst einfach wunderbar. 
Nachdem ich eine Weile geschwommen war, entdeckte ich ein Korallenriff. Obwohl ich viel zu groß war, um anständig hindurch zu schwimmen, schwamm ich so nah, dass ich es mir in Ruhe ansehen konnte. Korallenriffe gab es in Kalifornien nicht und ich sah zum ersten mal eines aus der Nähe. Es war faszinierend, die Korallen waren bunt und überall schwammen kleine Fische herum. Okay, sie schwammen solange herum, bis sie mich bemerkten. Wohl doch ein zu großer Angstmacher. Ich drehte lieber wieder um und überließ die Fischchen sich selbst. Langsam bekam ich auch Hunger. Also zurück zur Schule. Ich schwamm eine Weile an der Küste entlang, bis mir auffiel, dass die Gegend nicht die war, durch die ich hergeschwommen war. Wäre ich ein Mensch, hätte ich mir die Hand vor die Stirn geschlagen, ja ich war an der Küste entlang geschwommen, aber in die falsche Richtung! Also hieß es umdrehen. 
Als ich dann endlich an der Schule ankam, war es schon ziemlich spät. Ich verwandelte mich zurück, streifte mir eilig den Badeanzug über und trocknete mich fahrig ab, bevor ich zu meiner Hütte lief, um mich richtig anzuziehen. 

„Sei mit mir frei", sprach der Seelöwe
 
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