❁ Bellflowers ❁
Einsam schwebte das kleine Kirschblütenblatt durch die Lüfte. Getragen durch die seichte Aprilbrise erreichte es neue Höhen, bevor es sachte wieder Richtung Boden glitt. Der Morgentau glitzerte durch die ersten Sonnenstrahlen und ließ das kleine Kirschblütenblatt erstrahlen, ehe es entlegen auf der kleinen Pfütze, die der nächtliche Regenguss hinterlassen hatte, sank. Doch tapfer hielt sich das kleine Blatt auf der ebenen Wasserfläche, unterdessen es friedlich darüber segelte wie ein kleines Papierboot auf dem See. Ungetrübt lag die morgendliche Idylle, während alles noch schlief.
Ein weißer Laufschuh mit grauen Applikationen traf auf die Pfütze und ließ das Wasser darin spritzen. Das in Seenot geratene Kirschblütenblatt wurde hinfort gespült und lag nun verlassen auf dem feuchten Asphalt. Dazu verdammt, ein einsames Dasein zu fristen. Fernab von seinem beheimateten Baum.
Doch das alles bemerkte Ushijima Wakatoshi nicht. Fokussiert lag sein Blick auf seiner Strecke, die er in seinem schnellen Tempo entlang joggte, bis er das Eingangstor der Shiratorizawa Gakuen passierte. Dabei dröhnten Klavier und Streicher aus seinen In-Ear-Kopfhörern, die er auf volle Lautstärke gestellt hatte. Kraftvolle Akustik-Klänge waren die bevorzugte Wahl des Volleyballers, wenn er Laufen ging. Kein störender Gesang, der ihn ablenken konnte. Nur die reine Harmonie und ein fordernder Takt, der ihn weiter vorantrieb.
Wie jeden Morgen lag das weitläufige Gelände der Shiratorizawa verwaist vor ihm. Die meisten Schüler schlummerten noch immer friedlich in ihren Betten in den Wohnheimen und die vereinzelten, die sich morgendlichen Clubaktivitäten hingaben, waren nicht außerhalb der Turnhallen oder Clubräume zu finden. Nur der Volleyballclub der Shiratorizawa Gakuen bildete eine Ausnahme, wobei der Captain des Teams wie immer zu schnell für seine Kollegen war und deshalb mit beachtlichem Abstand als erster das Gelände nach der ordentlichen Laufrunde betrat. Prüfend ließ der Drittklässler seine Pupillen zur großen Uhr am Hauptgebäude gleiten, als er daran vorbeijoggte. Pünktlich wie jeden Morgen. Egal zu welcher Jahreszeit. Und genau das brauchte Wakatoshi. Er war ein Gewohnheitsmensch.
Der nächste Titel seiner Playlist auf seinem Smartphone startete just in dem Moment, als er die Volleyballturnhalle passierte. Wie jeden Morgen ging er nicht hinein, sondern lief unbeirrt weiter. Schließlich erlaubte ihm sein Tempo durch die damit gewonnene Freizeit, sein ganz eigenes Morgenritual. Fernab seiner lauten und lärmenden Teamkameraden. Noch einen Moment Ruhe und Frieden, bevor er den Tag startete.
Zaghaft zupften die Streicher an ihren Saiten und begleiteten die gehauchten Klaviertöne, während Ushijima immer weiterlief. Vorbei an den Turnhallen, den Gewächshäusern, den Unterrichtsgebäuden. Vorbei an den Tennisplätzen, den Sportfeldern, der Stallungen, den Geräteschuppen und Gärtnereigebäuden. Weiter und immer weiter, bis zum entlegensten Winkel des weitläufigen Schulgeländes. Dort hatte er es vor zwei Jahren entdeckt. Sein eigenes kleines Paradies. Sein Geheimnis. Seine Oase zum Krafttanken. Sein...
Der Volleyballer stockte und verlangsamte seine Schritte, während er blinzelte, als wäre er sich nicht sicher, ob er einen Geist vor sich hatte. Leicht kniff er die Augen zusammen, um genauer hinzusehen, während er seinem Ziel immer näherkam.
Saß da jemand?
Die ersten Sonnenstrahlen, die den herannahenden Tag begrüßten, blendeten den Sportler und ließen es im ersten Moment wirken, als würde das sitzende Etwas leuchten. Als wäre es nicht von dieser Welt.
Fast automatisch glitt Wakatoshis Hand zum Reißverschluss seiner Trainingsjacke und öffnete sie ein Stück, um das Smartphone in seiner Innentasche zum Schweigen zu bringen. Während die Instrumente in seinen Kopfhörern verstummten, drang stattdessen eine leise gesummte Melodie an seine Ohren. Wakatoshi hätte genervt sein müssen. Genervt davon, dass seine Morgenroutine gestört wurde. Dass jemand an seinem geheimen Ort war und ihn davon abhielt, die Ruhe und den Frieden zu genießen und seine gewohnte Kraft zu tanken. Doch sehr zu seinem eigenen Erstaunen, war er weder genervt noch gereizt. Die zaghafte Melodie, die in seinen Gehörgängen kitzelte, zog ihn in seinen Bann wie Sirenengesang. Ohne ein Wort zu sagen, Schritt er immer näher an das dort sitzende Etwas, das noch immer zu leuchten schien, wie ein Glühwürmchen auf dem Feld. Erst, als die Sonne sich für einen Moment hinter einer kleinen Wolke versteckte, als wäre sie schüchtern, konnte der Drittklässler nun genauer erkennen, was an seinem geheimen Ort vor sich ging.
DU LIEST GERADE
❁Flowers to you ❁
FanfictionWakatoshis Leben war wie in Beton gegossen. Feste Strukturen und Routinen waren dem Gewohnheitsmenschen wichtig. Ebenso die Ruhe und Abgeschiedenheit seines persönlichen Rückzugsortes, den er besuchte um den Lärm und dem Grau des Alltages zu entflie...