Kapitel 11

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Tobio war normalerweise niemand, dem es besonders leicht viel sich anderen zu öffnen. Er nahm an, dass die Tatsache, dass er nur wenige Vertraute besaß, mit Schuld daran hatte. Mit dem Tod seines Großvaters war ihm die wichtigste Person in seinem Leben verloren gegangen, und nachdem ihm Miwa im Laufe der Zeit immer mehr entglitten war und nach all seinen Erlebnissen in der Oberschule, war es ihm zunehmend schwer gefallen Vertrauen zu anderen Personen zu fassen, und jedes Mal, wenn er doch jemanden gefunden hatte, dem er sich anvertrauen konnte, dann wollte er diese Personen um keinen Preis enttäuschen, was erst recht wieder dazu führte, dass er seine Gefühle und Sorgen für sich behielt anstatt sie auszusprechen.

Und da seine Miene ja angeblich irgendwie immer unheimlich aussah, egal wie er dreinblickte, war er auch nicht gerade jemand, dem man seine Gefühle vom Gesicht ablesen konnte. Also hatte er sich gezwungenermaßen daran gewöhnt sich niemanden anzuvertrauen.

Aber Oikawa Tooru hatte schon immer die Gabe besessen Tobio aus seinem Schneckenhaus hervorzuholen, auf die eine oder andere Weise, und obwohl er das eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, ertappte Tobio sich dabei wie er sich dem anderen Mann anvertraute und über seine Gefühle und seine Ängste sprach, und darüber was er alles verloren hatte und wie schwer ihm alles fiel.

Offenbar hatte Oikawa ihm nur versichern müssen, dass es für ihn die Möglichkeit gab weiterzumachen, um ihn dazu zu bringen das endlich auch zu zumindest irgendwie zu glauben. Ja, die Ärzte hatten ihm das auch immer wieder gesagt, und Hinata hatte es ihm natürlich ebenfalls gesagt, aber Tobio hatte ihnen allen bisher im Grunde seines Herzen nicht geglaubt. Oikawa Tooru aber glaubte er, vielleicht deswegen, weil Oikawa ihn nie angelogen hatte, vielleicht deswegen, weil er wusste, dass - trotz oder gerade wegen allem, was zwischen ihnen vorgefallen war - Oikawa ihn niemals anlügen würde.

Und sobald er einmal damit begonnen hatte seine Zurückhaltung abzulegen und alles auszusprechen, was ihn auf der Seele lag, sobald er sich nicht mehr selbst aufhielt, sobald das Thema unangenehm wurde, stellte er fest, dass es ihm sehr leicht fiel sich zu öffnen, dass es ihm sehr leicht fiel über alles zu sprechen.

Natürlich gab es Momente, in denen er das Gefühl hatte zu weit gegangen zu sein oder etwas Falsches gesagt zu haben, Momente, in denen er fliehen oder schweigen wollte, doch Oikawa schien zu spüren wann immer es soweit war, da er einfach nicht zuließ, dass Tobio eines der beiden Dinge tat – er stellte sich entweder demonstrativ vor den Rollstuhl und blockierte dessen Räder, oder er gab provokante Dinge ala „Komm schon, Tobio-chan, fang jetzt nicht damit an schüchtern zu sein!" von sich. Und dann fühlte sich Tobio genötigt zu reagieren, indem er Oikawa beschimpfte, der sich davon aber nicht beeindrucken ließ.

Erstaunlicherweise lief es ganz gut. Tobio stellte fest, dass es ihm gut tat Dinge auszusprechen, die er bisher nie gewagt hatte zu sagen, und Oikawa fiel auch nicht auf Bullshit herein, wenn er ihn hörte. „Oh, komm schon, das denkst du doch nicht wirklich", pflegte er dann zu sagen. Oder „Ja, aber darum geht es dir doch gar nicht". Oder er schnaubte einfach nur abfällig, was Tobio erst recht wieder provozierte. Und er musste feststellen, dass er oft einfach selbst nicht wusste was er eigentlich wirklich meinte oder fürchtete oder empfand bis er sich dazu vorgearbeitet hatte. Oft war es nicht Stolz, der ihn motivierte etwas nicht tun zu wollen, oft war es Angst oder Schmerz - das musste er sich nur selbst erst einmal eingestehen.

Und dann wurden sie von Shouyou unterbrochen, und Tobio, der nie gewollt hatte, dass ausgerechnet Shouyou ihn an seinem Tiefpunkt sah, war von dessen Anwesenheit mehr als nur ein wenig überfordert, und war zu emotional ausgelaugt und verwirrt um mit dieser besonders geschickt umzugehen. Entsprechend entwickelte sich alles wieder einmal zu einer mittleren Katastrophe, und dann war Shouyou auch schon wieder weg und hatte einen Grund mehr um Tobio zu verlassen. Als ob er einen gebraucht hätte!

Lonley at the TopWo Geschichten leben. Entdecke jetzt